Job 19:21-27

Die flehentliche Bitte um Mitleid

Hiob ist am Tiefpunkt der Beschreibung seiner Situation angelangt. Er richtet einen herzzerreißenden Appell an diejenigen, die er ausdrücklich „meine Freunde“ nennt, sich seiner zu erbarmen (Hiob 19:21; vgl. Hiob 6:14). Er braucht ihre Hilfe besonders jetzt, wo Gottes Hand ihn so hart getroffen hat (Hiob 1.2). Diese Hand lastet immer noch schwer auf ihm, ohne dass er einen Grund dafür erfährt. Er sehnt sich danach, dass sie ihm helfen, das Leid zu ertragen.

Für Hiob ist es jetzt noch so, dass sie ihn verfolgen und sich ihm gegenüber so verhalten, wie Gott sich ihm gegenüber verhält (Hiob 19:22). Wann werden sie seines Fleisches satt sein? Wenn sie ihn sehen, muss ihnen doch klar werden, wie sehr er leidet. Ist das nicht Grund genug, ihn nicht länger mit ihren Anschuldigungen zu quälen, die sein Leiden noch vergrößern?

Hiob ist sich so sicher, dass er unschuldig leidet, dass er sich wünscht, seine Worte würden aufgeschrieben und aufgezeichnet (Hiob 19:23). Dann können künftige Generationen seine Verteidigung lesen. Er ist überzeugt, dass sie zu dem Schluss kommen werden, dass seine Ankläger sich irren und er wirklich unschuldig ist.

Er will auch, dass sie nicht nur in einer Schriftrolle niedergeschrieben werden, sondern auch „mit einem eisernen Griffel und Blei auf ewig in einen Felsen eingehauen werden“ (Hiob 19:24). Schließlich kann eine Schriftrolle verderben oder verloren gehen, aber was in einen Felsen gehauen und mit Blei gefüllt wird, ist sehr haltbar und bleibt lange lesbar. Auf diese Weise will er sein „Recht“, das Zeugnis über seine Unschuld und das ihm angetane Unrecht, über seinen Tod hinaus feststellen.

Was Hiob sich wünscht, ist eingetreten, und zwar auf weitaus überzeugendere Weise, als er vorschlägt. Seine Worte sind von Gott in seinem Wort, dem ewigen Wort, aufgezeichnet worden. Nur geschah es nicht so, wie er es beabsichtigt hatte, um seine Unschuld für immer festzustellen, sondern um uns zu lehren, wie Gott mit einem Menschen umgeht, dem Er sich offenbaren will.

Die Worte Hiobs entspringen dem Wunsch, seine Aufrichtigkeit zu verteidigen. Auf diese Weise hat er seine Worte schon früher verteidigt (Hiob 7:7-11; Hiob 10:1; Hiob 13:3; 13; 14). Sie sind auch eine direkte Antwort auf die harschen Worte Bildads, dass sein Andenken von der Erde verschwinden und sein Name aussterben wird (Hiob 18:17). Sowohl Hiob als auch Bildad kennen die Wahrheit der Worte der Weisheit: „Das Andenken an den Gerechten ist zum Segen, aber der Name der Gottlosen verwest“ (Spr 10:7). Hiob klammert sich an den ersten Teil, Bildad wendet den zweiten Teil auf Hiob an.

Der Triumph des Glaubens

In diesen Versen sehen wir plötzlich einen weiteren Lichtstrahl von Hiobs Glauben. Statt in einem Felsen auf der Erde eingehauen zu sein, sucht Hiob nun weiter oben im lebendigen Felsen. Er spricht von einem Erlöser, den er ganz persönlich „mein Erlöser“ nennt (Hiob 19:25). Sein Fels (Hiob 19:24) ist sein Erlöser. Im Hebräischen wird das Wort „ich“ am Anfang des Verses betont. Es zeigt Hiobs feste Überzeugung: „Ich, ja ich, weiß.“

Das Wort „lebt“ bedeutet mehr als „am Leben sein“. Es bedeutet, dass der Erlöser sein Werk fortsetzen wird, um Hiobs Aufrichtigkeit festzustellen und ihn von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entlasten. Dies geht auch aus den Worten Hiobs in den letzten Versen dieses Kapitels hervor.

In zwei früheren Kapiteln (Hiob 9; 16), in denen Hiob seine tiefe Verbitterung gegenüber Gott zum Ausdruck bringt, hat er auch von der Person gesprochen, die er hier „Erlöser“ nennt. In Hiob 9 stellt er das Fehlen dieser Person fest: „Es gibt zwischen uns keinen Schiedsmann“ (Hiob 9:33), mit dem impliziten Seufzer: „Wenn es nur Einen geben würde.“ In Hiob 16 bringt er zum Ausdruck, dass es sich bei dieser Person um denjenigen handelt, der seine Sache kennt und für sie eintritt: „Sogar jetzt, siehe, im Himmel ist mein Zeuge, und der mir Zeugnis gibt, ist in den Höhen“ (Hiob 16:19). Hier in Hiob 19 wächst dies zu der Überzeugung, dass er ein lebendiger Erlöser ist, der ihm alles gibt, was ihm gehört: „Und ich, ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“

Hiob hat hier mehr im Sinn als nur jemanden, der seine Aufrichtigkeit bezeugen wird. In Hiob 16 sieht er sich selbst als Opfer eines Mordes, wenn er ausruft: „Erde, bedecke nicht mein Blut!“ (Hiob 16:18). Er zählt auf seinen Erlöser, seinen „Go′el“, dass er für ihn Zeugnis ablegt, aber auch, dass er ihm zu seinem Recht verhilft. Er weiß, dass Gott dies nach seinem Tod tun wird. Dass Gott ihm schon auf der Erde Gerechtigkeit widerfahren lassen wird, weiß er noch nicht. Das macht seine Aussagen zu Glaubensaussagen.

Das hebräische Wort für „Erlöser“ oder „Löser“ ist go′el. Je nach Kontext wird dieses Wort auch mit „Bluträcher“ übersetzt. Das Wort ist in der alttestamentlichen Rechtsprechung von Bedeutung. Sie hat einen strafrechtlichen und einen zivilrechtlichen Aspekt. Als „Bluträcher“ hatte der Go′el die Aufgabe, das Blut eines getöteten Familienmitglieds zu rächen (4Mo 35:12-28). Er suchte nicht nach Rache, sondern nach Gerechtigkeit. Der Erlöser oder Löser, der Go′el, sorgt auch für die Wiederherstellung verlorener Rechte oder Besitztümer. Er hält das Recht aufrecht (3Mo 25:25-34).

Was den zivilrechtlichen Aspekt anbelangt, so war der Go′el dafür verantwortlich, das verlorene Erbe eines verstorbenen Verwandten „zurückzukaufen“ und damit zu erlösen. Dies konnte geschehen, indem man aus der Sklaverei freikaufte oder die Witwe heiratete, um für einen Erben zu sorgen. Als solcher war er der Verteidiger der Unterdrückten, so wie wir im Buch Ruth sehen (Rt 4:1-10; Spr 23:10; 11). Beim Auszug und in der Verbannung ist Gott der Go′el seines unterdrückten Volkes (2Mo 6:6; Jes 43:1). Als der Go′el befreit der HERR Personen vom Tod (Ps 103:4).

Weil sein Erlöser lebt, weiß Hiob auch, dass dieser Erlöser „als der Letzte ... auf der Erde [wörtlich: dem Staub] stehen“ wird. Das heißt, er wird seine Herrschaft über alle materiellen Dinge ausüben, inklusive des Menschen, der Staub ist. „Stehen“ meint, bereitzustehen um in Aktion zu treten. Der Erlöser wird sich erheben und auf die Erde kommen, um alles wiederherzustellen und überall für Gerechtigkeit zu sorgen.

Hiob rechnet damit, dass er sterben wird und dass von seinem Leichnam im Grab nichts übrig bleiben wird (Hiob 19:26). Zum Zeitpunkt seines Todes wird er seiner Haut beraubt worden sein. Auch wenn er keine Haut mehr hat, wird er Gott aus seinem Fleisch heraus sehen. Hier zeigt sich Hiobs Glaube an die Auferstehung. Er drückt hier als seine Überzeugung die Wahrheit einer buchstäblichen, leiblichen Auferstehung aus. Mit seiner Aussage über die Auferstehung pflanzt Hiob „die Fahne des Sieges auf sein eigenes Grab“. David hat auch von der Auferstehung gesprochen (Apg 2:31). Die Gläubigen des Alten Testaments wissen, dass es eine Auferstehung gibt (Ps 17:15; Jes 38:11-19).

Außer dem Glauben an die Auferstehung glaubt er auch, dass er dann Gott anschauen wird. Er wird nicht aus der Ferne hören, wie Gott seine Entscheidung zu seinen Gunsten verkündet, sondern er wird Gott von Angesicht zu Angesicht in einem verherrlichten Körper gegenüberstehen. Er wird Gott im Antlitz Jesu Christi sehen, der das Ebenbild Gottes ist. Die Krankheit und das Grab werden seinen Körper verzehren, aber das ist nicht das Ende seiner Existenz. Er sagt gewissermaßen, was David später sagt: „Ich aber werde dein Angesicht schauen in Gerechtigkeit, werde gesättigt werden, wenn ich erwache, mit deinem Bild“ (Ps 17:15).

Er selbst wird Gott mit seinen eigenen Augen anschauen (Hiob 19:27). Es ist dieser Gott, den er jetzt noch als jemanden erlebt, der gegen ihn ist. Zugleich weiß er von diesem Gott, dass Er sein Gott ist. Es gibt keinen anderen Gott. Gott ist der Gott, auf den er immer vertraut hat, auch wenn er an seinem Umgang mit Ihm verzweifelt ist. Er kennt Gott und Gott kennt ihn. Hiob wird nicht ein anderer Mensch sein, ein Fremder, jemand, den man auf Distanz hält, weil er keine Beziehung zu Gott hat. Und Gott ist auch kein anderer als der Gott, dem er auf der Erde gedient hat.

Er sehnt sich nicht nach der Wiederherstellung seiner Gesundheit, nach der Befreiung von all seinen Sorgen, nach der Rückkehr zu seinem früheren Wohlstand und Wohlergehen, zu all dem, was Gott ihm jemals gegeben hat. Er weiß, dass dies unerreichbar ist, er glaubt nicht daran. Er sehnt sich nach etwas, das größer ist als aller irdische Wohlstand, und das ist Gott selbst. Diese Sehnsucht ist so groß, dass sie seine Nieren verschmachten lässt. Es verweist auf die intensive und totale Sehnsucht von allem was in ihm ist. Am Ende des Buches ist diese Sehnsucht in gewissem Sinn bereits erfüllt, denn er erhält, um was er nicht gebeten hat.

Copyright information for GerKingComments