Lamentations 1:10

Der gegenwärtige Zustand als Klage zu Gott

Der Dichter spricht über ihre Unreinheit, die die Säume ihrer Kleidung befleckt, was von allen gesehen wird und Abscheu hervorruft (Klgl 1:9). Dies bezieht sich auf ihren Götzendienst, durch den sie unrein geworden ist, eine Unreinheit, die ihrem ganzen Gang anhaftet. Sie hat sich überhaupt keine Gedanken über die Folgen ihres Götzendienstes gemacht, was am Ende sein würde, worauf es hinauslaufen würde und worauf es nun auch hinausgelaufen ist (vgl. 5Mo 32:29; Jes 47:7). Sie hat nicht bedacht, dass der HERR eingreifen würde, obwohl Er sie durch seine Propheten schon oft davor gewarnt hatte.

Die Tiefe des Elends, worin die Stadt wegen ihrer Untreue versank, ist „erstaunlich“ (vgl. 5Mo 28:43). Das hätte sie nie für möglich gehalten. „Erstaunlich“ heißt, dass Gott in erstaunlicher Weise mit ihr umgegangen ist, wodurch sie in ein unvorstellbar tiefes Elend kam. Diese Tiefe, in die die Stadt versunken ist, hat in den Augen des Propheten einen übernatürlichen Ursprung. In Verbindung damit lesen wir zum zweiten Mal, dass sie keinen Tröster hat, eine Feststellung, die ihr Elend noch nachdrücklicher verdeutlicht.

Im letzten Teil des Verses 9 hören wir zum ersten Mal die Stadt selbst über ihr, „mein“, Elend sprechen. Jeremia macht sich hier eins mit der Stadt. Er legt die Worte in den Mund der Stadt. Der Ausruf „Sieh, HERR“ kommt in diesem Kapitel noch zwei weitere Male vor (Klgl 1:11; 20). Der Zweck des Ausrufs ist es, den HERRN auf ihr Elend hinzuweisen, damit, wenn Er dieses Elend sieht, es doch sein Mitleid erwecken würde. Sie macht Ihn darauf aufmerksam, dass der Feind sich selbst groß macht, indem er sie demütigt. Das kann Er, der allein wirklich „groß“ ist, doch nicht ungestraft lassen!?

Der Feind hat nicht nur Jerusalem zur Schande gemacht, sondern er hat auch seine Hand nach den Kostbarkeiten des Tempels ausgestreckt (Klgl 1:10; 2Chr 36:10; Jer 52:17-23). Dass Menschen aus den Nationen in das Heiligtum eingedrungen sind, ist eine schockierende und für einen Juden unerträgliche Sache (Ps 79:1; vgl. 5Mo 23:3; 4).

Heiden war es verboten, den Tempel zu betreten (Hes 44:7). Menschen, die nicht einmal zum Volk Israel gehörten, hatten das Heiligtum betreten. Dass dies geschehen konnte, liegt daran, dass Jerusalem das Heiligtum ihres Herzens nicht vor der Zerstörung durch den Feind der Seele geschützt hat. Sie hat dem Feind erlaubt, ihre geistlichen Schätze zu rauben, denn sie hat sich mit ihm eingelassen und angefangen, seinen Göttern zu dienen.

Nach der Zerstörung der Stadt – und nicht während der Belagerung – seufzt „all ihr Volk“, also die verbliebene Bevölkerung, und ist verzweifelt auf der Suche nach Brot (Klgl 1:11). Es herrscht allgemeine Hoffnungslosigkeit. Sie haben alle ihre Kostbarkeiten hergegeben, nur um ein wenig Nahrung zu bekommen. Das gibt ein kurzes Aufleben und Überleben (vgl. Ri 15:19; 1Sam 30:12). Nun haben sie nichts mehr. Der Hungertod ist ihre Zukunft.

Zum zweiten Mal lesen wir „sieh, HERR“ (Klgl 1:11; Klgl 1:9). Es kommt aus der Tiefe ihrer Seele. Es geht nicht darum, seine Aufmerksamkeit auf die Verachtung als solche zu lenken, sondern auf deren Tiefe und Ausmaß. Sie hofft, dass dies den HERRN zum Erbarmen bewegt.

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