Luke 10:25-37

Ein Gesetzgelehrter versucht den Herrn

Nachdem der Herr die herrlichen himmlischen und ewigen Dinge über den Vater und den Sohn entfaltet hat, steht ein Gesetzgelehrter auf und ergreift das Wort. Er hat ein Gespür dafür, dass der Herr über Dinge spricht, die nicht mit dem Gesetz in Einklang zu bringen sind, also schließt er, dass sie dazu im Widerspruch stehen. Wenn der Herr sagt, dass Er von Gott kommt, sollte Er doch gewiss das Gesetz wahren. Darum legt der Gesetzgelehrte Ihm einen Fallstrick. Der Heilige Geist vermerkt, dass der Gesetzgelehrte beabsichtigt, den Herrn zu versuchen.

Die Frage des Gesetzgelehrten ist, was er tun müsse, um ewiges Leben zu erben. Für ihn ist es unmöglich, dass das ohne das Gesetz geschehen könnte. Nach seiner Beurteilung würde der Herr sich in seinem Anspruch, der Christus zu sein, unglaubwürdig machen, wenn Er einen anderen Weg zeigte. Und wenn Er sich nur auf das Gesetz beziehen würde, dann war Er nicht der Gnädige, der Er zugleich vorgab zu sein.

Der Gesetzgelehrte fragt nicht: „Was muss ich tun, um errettet zu werden?“, sondern er stellt mit seiner Frage etwas zur Diskussion, worauf er mit seiner Kenntnis des Gesetzes doch eine Antwort hat. Seine Frage ist nicht ehrlich gemeint, sie ist für ihn einfach theoretisch. Er ist nicht wirklich um das Heil seiner Seele besorgt, und er hat keinen Begriff von seinem eigenen Zustand oder von Gott.

Das Gesetz geht nicht von der Tatsache aus, dass ein Sünder hoffnungslos verloren ist, es bietet ihm aber auch keine Erlösung an. Das Gesetz kann nur an die Verantwortung eines Menschen appellieren, aber weil der Mensch ein Sünder ist, kann er dieser Verantwortung niemals gerecht werden. Der arme, verzweifelte Kerkermeister in Philippi stellte wohl die Frage, wie er errettet werden könne (Apg 16:30), die Frage, die sich für einen Sünder viel eher schickt.

In seiner Reaktion auf die Frage dreht der Herr die Verhältnisse um. Er wird der Frageseller, und der Gesetzgelehrte muss Ihm antworten. Er fragt ihn nicht nur, was im Gesetz geschrieben steht, sondern auch, wie er liest. Der Herr stellt dem Gesetzgelehrten die richtige Frage, denn der stellt sich ja auf die Grundlage des Gesetzes.

Das ewige Leben zu erben, war für ihn etwas, was man durch eigene Anstrengung erreichen konnte. Er suchte sein Heil in der Erfüllung des Gesetzes. Der Herr antwortet in seiner Weisheit dem Toren nach seiner Narrheit (Spr 26:5). Ein Narr denkt, dass er das Gesetz halten und auf diese Weise das ewige Leben erben könne. Mit seiner Frage will der Herr ihn davon überzeugen, dass alle Versuche, auf dieser Grundlage das ewige Leben zu erben, völlig nutzlos sind.

Der Gesetzgelehrte beantwortet die Frage, was im Gesetz geschrieben steht. Ohne sich dessen bewusst zu sein, beantwortet er auch die Frage, wie er liest. Er weiß genau, was dort steht, aber er liest es, ohne dass sein Herz daran beteiligt ist. So können auch wir mit der Schrift umgehen. Wir wissen wohl, was da steht, und kennen die richtigen Antworten auf biblische Fragen. Das ist jedoch nur Theorie, wenn nicht die ganze Schrift unser Herz und unser Leben bestimmt.

Der Herr sagt dem Gesetzgelehrten, dass er recht geantwortet habe. Er bewertet dessen Antwort als richtig. Das steht tatsächlich da. So hat Er es aufschreiben lassen. Wenn der Gesetzgelehrte sich daran hält, wird er leben, das heißt, dass er das ewige Leben als Erbteil empfangen wird.

Der Gesetzgelehrte hat auf die Frage des Herrn geantwortet, aber er empfindet, dass er sich geschlagen geben muss. Das will er jedoch nicht zugeben, und er hat sofort eine andere Frage, die an seine eigene Antwort anknüpft. Er fragt, wer sein Nächster sei. Auch auf diese Frage erwartet er eine Antwort, die dem Gesetz entspricht. Es könnte also nur jemand aus dem Volk Gottes sein. Wenn der Herr die Antwort nicht geben würde, könnte Er nicht der Christus sein. Der Mann begreift nicht, dass er dabei ist, die Weisheit Gottes herauszufordern, und dass er sich selbst eine Schlinge legt.

Der barmherzige Samariter

Der Herr antwortet mit einem Gleichnis. Das ist eine ganz andere Art von Gleichnis als die Gleichnisse im Evangelium nach Matthäus. Dort redet Er in Gleichnissen vom Reich, während Lukas aus dem Mund des Herrn Jesus Gleichnisse von der Gnade aufschreibt.

Der Herr schildert einen Menschen, der von Jerusalem nach Jericho hinabgeht. Das bedeutet, dass es um einen Menschen geht, der den Ort verlässt, wo Gott wohnt, um zu dem Ort des Fluches zu gehen. Es ist nicht nur ein buchstäbliches Hinabgehen, sondern auch und vor allem ein geistlicher Abstieg. Der Mann erreicht Jericho jedoch nicht, denn er fällt unter Räuber. Die verschonen ihn nicht. Sie rauben ihm seinen ganzen Besitz, misshandeln ihn und lassen ihn halbtot liegen. Seine Zukunft sieht düster aus, er hat den Tod vor Augen.

Dann gibt es einen Hoffnungsschimmer. Ein Priester kommt vorbei, jemand, der Gott kennt und weiß, wie Gott ist. Der wird ihm, seinem Landsmann, doch sicher helfen. Doch da ist keine Freundlichkeit im Herzen dieses Priesters, nicht die Absicht, Liebe zu erweisen. Ihn hat auch nicht Gott auf die Reise geschickt, sondern er geht so seinen eigenen Weg. Er kommt „zufällig“ da vorbei. Für ihn ist dieser arme Mann ein Opfer des Zusammentreffens verschiedener trauriger Umstände, aber das ist nicht seine Sache. Diesen Mann in seinem Elend zu sehen, bewirkt keine Gnade in ihm, und so geht der Priester, der höchste Ausdruck des Gesetzes Gottes, „als er ihn sah, … an der entgegengesetzten Seite vorüber“.

Der Priester wusste nicht, wer sein Nächster war, genauso wenig wie der Gesetzgelehrte. Selbstsucht macht blind. Das Gesetz gibt Erkenntnis der Sünde, aber es ermutigt nicht dazu, anderen in Not zu helfen. Das Gesetz zeigt dem Menschen einfach seine Pflicht und erklärt ihn für schuldig, weil er dieser Pflicht nicht nachkommt. Andererseits verbietet das Gesetz nicht, Barmherzigkeit zu üben.

Als der Priester verschwunden ist, kommt ein Levit vorbei. Er steht nach dem Gesetz, was seine Stellung betrifft, dem Priester am nächsten. Er schaut auch zu dem Mann hin, aber ebenso wenig wie der Priester erkennt er in dem Mann seinen Nächsten.

Dann kommt ein Samariter dort an. Wenn der Mann nicht halbtot gewesen wäre, hätte er jedenfalls nicht von einem Samariter Hilfe haben wollen. Aber er hat nicht einmal die Kraft, jemanden zu Hilfe zu rufen. Der von ihm verachtete Samariter fragt nicht, wer sein Nächster ist. Die Liebe, die in seinem Herzen ist, macht ihn zum Nächsten des Mannes, der in Not ist. Das ist es, was Gott in Christus selbst getan hat. Dann verschwinden alle Unterscheidungen, sowohl die nach dem Gesetz als auch die natürlichen.

Der Samariter kommt nicht „zufällig“ da vorbei. Er ist „auf der Reise“ und hat somit ein Ziel. Auf dem Weg zu diesem Ziel kommt er am Opfer des Raubüberfalls vorbei. Er sieht den Mann, und statt sich abzuwenden, wird er innerlich bewegt. Sein Erbarmen bringt ihn dazu, selbst zu dem Mann hinzugehen. Er schickt keinen anderen. Er sagt nichts, macht dem Mann keine Vorwürfe, sondern verbindet seine Wunden, nachdem er sie mit Öl und Wein behandelt hat.

Der Samariter scheint auf solch eine Begegnung vorbereitet zu sein, denn er hat genau die Dinge bei sich, die für diesen Mann notwendig sind. Er überlässt den Mann auch nicht weiter seinem Schicksal, sondern nimmt ihn mit. Dazu stellt er sein eigenes Reittier zur Verfügung. Der Mann darf darauf sitzen, und er läuft nebenher. Er tauscht seinen Platz mit dem Mann. Das tut der Herr Jesus mit uns. Er war reich und ist arm geworden, um uns, die wir arm waren, reich zu machen (2Kor 8:9).

In dem Öl, dem Wein und dem Reittier können wir auch eine geistliche Bedeutung sehen. Öl ist ein Bild des Heiligen Geistes, und der Wein ist ein Bild der Freude. Sein eigenes Reittier ist das, was uns trägt. Wir können darin seine Gerechtigkeit sehen, durch die wir vor Gott leben können.

So bringt er ihn in eine Herberge. Der Samariter muss weiterreisen, aber seine Fürsorge für ihn hört nicht auf. Er übergibt ihn der Fürsorge des Wirtes und bezahlt ihm dafür zwei Denare. Und auch dann noch hört seine Sorge für ihn nicht auf. Er verspricht, dass er wieder zurückkommen wird, um zu sehen, wie es dem Mann ergeht. Sollte sich dann herausstellen, dass mehr nötig ist als die zwei Denare, wird der Samariter auch das vergüten.

Das ist das volle Ergebnis der Gnade. Gnade erlöst nicht nur von Sünden, sondern bringt auch in eine Herberge, ein Zuhause, unter die Fürsorge des Heiligen Geistes. Von Ihm können wir in dem Wirt ein Bild sehen. Wir können in dem Wirt aber auch ein Bild von einem Gläubigen sehen, der sich mit der Gabe, die der Herr ihm dazu durch den Heiligen Geist gegeben hat, um andere kümmert.

Bei seiner Rückkehr wird der Herr alle, die sich um andere gekümmert haben, für alle übermäßigen Anstrengungen entschädigen, die sie auf sich genommen haben.

Anwendung des Gleichnisses

Der Herr hat eine eindrucksvolle Illustration für Nächstenliebe gegeben. Jetzt darf der Gesetzgelehrte die Frage beantworten, wer der Nächste war. Beachte, wie der Herr die Frage herumdreht. Der Gesetzgelehrte hatte die Frage: „Wer ist mein Nächster?“ Der Herr fragt: Wer erweist sich als der Nächste anderer? Mein Nächster ist derjenige, der mir in meiner Not zu Hilfe kommt. Nicht der ist der Nächste, dem ich Liebe erweisen muss, sondern der Nächste ist der, der sich über mich erbarmt. Das bedeutet, dass ich mich in dem Mann erkenne, der unter die Räuber gefallen ist, und dass ich von jemandem abhängig bin, der mein Nächster sein will. Der Herr Jesus ist für mich der Nächste geworden.

In seiner Antwort nimmt der Gesetzgelehrte das Wort „Samariter“ nicht in den Mund. Stattdessen gibt er, ohne sich das zu klarzumachen, die schöne Umschreibung: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Dann kommt die Antwort des Herrn, die für ihn wie ein Donnerschlag geklungen haben muss: „Geh hin und tu du ebenso.“ Der Herr sagt damit, dass er so handeln soll, wie der Samariter es getan hat. Er schickt ihn hin, genau das zu tun.

Der Gesetzgelehrte hat alles gesagt. Gegen das, was der Herr gesagt hat, ist vom Gesetz her nichts einzuwenden. Eine solche Haltung findet man im Gesetz nicht. Das Gesetz sagt gar nichts darüber. Es verurteilt eine solche Haltung nicht, aber ermutigt auch nicht dazu. Die Gnade geht daher auch weit über das Gesetz hinaus. Der Herr Jesus hat alles, was im Gesetz steht, vollkommen erfüllt, aber Er hat unendlich viel mehr getan, als was das Gesetz sagt. So wie Er der Nächste ist, so wird das auch von uns erwartet.

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