Acts 23:1

Paulus in Konflikt mit dem Hohenpriester

Paulus wendet sich an das Synedrium und spricht es an. Er wird nicht zuerst befragt, sondern ergreift sofort das Wort. Er steht auf demselben Niveau wie sie, denn sie sind vor der Obrigkeit – die durch den Obersten repräsentiert wird – beide eine Partei. Mit seiner Anrede „Brüder“ verdeutlicht er erneut das Band, das er mit ihnen hat, er identifiziert sich mit ihnen und versichert sich ihrer Aufmerksamkeit.

Er fängt mit dem Zeugnis eines völlig guten Gewissens vor Gott an. Das hatte er immer (2Tim 1:3), auch als er die Gemeinde verfolgte. Er meinte ja, Gott einen Dienst zu erweisen (Joh 16:2). Dies zeigt uns, wie relativ das Gewissen ist. Seine Veränderung, seine Bekehrung, hat keine Folgen für die Wirkung seines Gewissens. Auch nach seiner Bekehrung hat er nichts anderes als das getan, wovon er vor Gott überzeugt war. Er ist immer darauf bedacht, sein Gewissen von jeglicher Anklage gegen sich selbst frei zu halten (Apg 24:16).

Ein gutes Gewissen kann man bewahren, wenn man alles, wozu dieses Gewissen anregt, aufrichtig und streng ausführt. Zugleich ist das Gewissen eine ganz und gar persönliche Sache. Nur wenn es dem Wort Gottes unterworfen ist, kann es so wirken, dass es zum Segen anderer und zur Ehre Gottes ist. Gerade weil das Gewissen so stark personengebunden ist, ist es kein starkes Argument. Es ist sehr subjektiv. Niemand kann es kontrollieren.

Diese Worte über sein Gewissen sind die einzigen Worte, die Paulus sagen kann. Er bekommt keine Möglichkeit, etwas über den Herrn Jesus zu sagen. Der Hohepriester wird sehr ärgerlich, möglicherweise sowohl durch den Eifer des Paulus als auch durch das, was er sagt. Wie wagt es dieser abgefallene Jude, über einen Wandel vor Gott mit einem guten Gewissen zu reden?! Er will die Sache sofort wieder selbst in die Hand nehmen und tut das, indem er den Auftrag erteilt, Paulus mit Gewalt den Mund zu verbieten. Als Paulus das hört, reagiert er unmittelbar mit einer scharfen Bemerkung. Seine Antwort ist zu Recht, sie offenbart aber nicht die Sanftmut Christi. Das Urteil, das Paulus hier fällt, hat den Charakter einer Prophezeiung, die sich nach der außerbiblischen Geschichte auch erfüllt hat.

Den Ausdruck „getünchte Wand“, den Paulus für den Hohenpriester gebraucht, hat er sich nicht selbst ausgedacht. Er hat ihn vom Propheten Hesekiel entlehnt, der diesen Ausdruck für die heuchlerischen Obersten Israels braucht, die das Volk in die Irre geführt haben (Hes 13:10; Mt 23:27). Ihr Reden glich dem Gebrauch von weißem Kalk, mit dem Risse und Löcher verschlossen wurden, so dass sie nicht mehr zu sehen waren. Ihre Worte machten den zerrissenen Zustand im Volk nicht nur unsichtbar, sondern gaben ihm ein schönes Ansehen. Gott wird diesen Zustand jedoch offenbaren und richten.

Die Umherstehenden sind über die Beschimpfung des Hohenpriesters entrüstet. Für sie war er der Hohepriester Gottes. Offensichtlich war der Hohepriester nicht in Amtstracht erschienen und für Paulus daher nicht als solcher erkennbar. Es ist auch möglich, dass Paulus ihn nicht gut erkennen konnte, da er besonders schlechte Augen hatte (Gal 4:15; Gal 6:11). Paulus hat Respekt vor dem Amt, nicht vor dem Mann. Er redet nicht von dem „Hohenpriester Gottes“.

Er akzeptiert jedoch die Korrektur seiner Ausfälligkeit, weil er innerlich an ein Wort aus der Schrift erinnert wird (2Mo 22:27). Das Wort bringt Paulus zum Bekenntnis. Das zitierte Wort bezieht sich nicht auf einen Hohenpriester, sondern auf jemanden, der Autorität im Volk ausübt. Doch der Grundsatz hat allgemeine Gültigkeit und kann deswegen auch auf den Hohenpriester im Blick auf sein Amt angewandt werden, wie unwürdig der Mann sich in diesem Amt auch verhielt.

Paulus versucht nicht, seine Aussage zu relativieren, indem er den Text anders erklärt. Darin ist er uns ein Vorbild. Für ihn traf nicht zu, was der Herr sagen konnte: „Wer von euch überführt mich der Sünde?“ (Joh 8:46). Der Herr brauchte auch nie zu sagen: „Ich wusste nicht“. Der Herr antwortete dem Hohenpriester auf eine vollkommen würdige Weise und bekam dafür auch einen Schlag ins Gesicht. Seine Reaktion darauf war genauso vollkommen würdig wie seine Bemerkung zuvor (Joh 18:22; 23).

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