Ezekiel 16:44-63

Jerusalem im Vergleich zu ihren „Schwestern“

Der HERR fährt fort, Jerusalem ihre Sünden vorzuhalten. Er benutzt ein Sprichwort, um deutlich zu machen, dass die Stadt nicht besser ist als die heidnische Mutter, von der sie abstammt (Hes 16:44). Die Mutter ist eine untreue Frau, die sogar selbst die normale, natürliche Liebe zu ihrem Mann und ihren Kindern nicht hat (Hes 16:45). So ist auch Jerusalem. Damit gleicht sie ihren Schwestern, die die natürliche Liebe ebenfalls verabscheuen. Der Ausdruck „Schwestern“ bezieht sich auf die Städte Jerusalem, Samaria und Sodom. Der heidnische Ursprung liegt in der Verbindung zwischen den Hethitern und den Amoritern. Jerusalem ist genauso götzendienerisch wie diese heidnischen Völker.

Der HERR weist Jerusalem auf Samaria hin und nennt diese Stadt die „größere Schwester“ von Jerusalem (Hes 16:46). Mit Samaria ist das gesamte Gebiet des Zehnstämmereiches gemeint, das viel größer ist als das von Juda. Seine Lage ist nördlich von Jerusalem. Ihre andere Schwester, Sodom, ist „kleiner“ als Jerusalem. Sodom liegt südlich von Jerusalem. Diese Stadt wird „kleiner“ genannt, weil sie ein kleineres Gebiet hat. Mit „ihren Töchtern“ sind die umliegenden Städte Samarias und Sodoms gemeint.

Dann zeigt der HERR die Wege auf, die diese Städte gegangen sind (Hes 16:47). Jerusalem weiß wohl, was mit Samaria und Sodom wegen ihres Abfalls vom HERRN geschehen ist: Sie sind verderbt. Jerusalem aber hat sich nicht warnen lassen, sondern hat es noch viel elender gemacht als sie. Jerusalem übertraf die beiden anderen Städte in ihren Sünden (vgl. Mt 11:23; 24; 2Chr 33:9; Jer 3:11; Lk 10:12). Mit einem Schwur bestätigt der HERR seine Feststellung, dass Sodom und seine Bewohner nicht so sehr gesündigt haben wie Jerusalem (Hes 16:48).

Um dies zu beweisen, zählt der HERR die abscheulichen Sünden Sodoms auf (Hes 16:49; 50). Diese Aufzählung zeigt, dass die Sünden von Sodom nicht nur aus den abscheulichen sexuellen Sünden bestanden, von denen die Stadt voll war (1Mo 18:20; 21; 1Mo 19:4; 5). Gott segnete Sodom reichlich mit natürlichem Wohlstand (1Mo 13:10). Aber anstatt Ihm dafür zu danken, war sie voll von sich selbst, voll von Egoismus, wie auch der Herr Jesus sagt (Lk 17:28).

Sodom ist ein perfekt geordneter Rechtsstaat gewesen, mit Handels- und Bewegungsfreiheit. Alle Einwohner hatten Essen und Trinken im Überfluss. Aber sie hat nur an sich selbst gedacht und nicht an andere. Alles diente der Befriedigung des eigenen Vergnügens. Das war der Nährboden für alle Unzüchtigkeiten und Abscheulichkeiten, die sich entwickelten und denen man vor Gott frönte. Deshalb stellte Gott die Stadt auf den Kopf, sobald Er sie „gesehen“ hatte (Hes 16:50; 1Mo 18:21; 1Mo 19:24; 25). Dennoch war diese Stadt nicht des Ehebruchs schuldig, wie es Jerusalem war.

Was wir in Sodom sehen, sehen wir auch in unserer Zeit. Alles dreht sich um den Wohlstand. Jeder will immer reicher werden, immer mehr ausgeben können, immer mehr genießen können. Diese Gier wird manchmal mit etwas Geld für Entwicklungsländer getarnt, aber das nimmt der ungezügelten Genusssucht nicht den Stachel. Auf diesem Boden grassiert die sexuelle Genusssucht, die alle von Gott gesetzten Grenzen mit äußerster Verachtung ablehnt.

Dann wendet der HERR den Blick Jerusalems auf Samaria (Hes 16:51). Diese Stadt hat nicht die Hälfte der Sünden Jerusalems getan. Gegenüber all den Gräueln, die Jerusalem begangen hat, erscheinen ihre Schwestern Sodom und Samaria wie gerechtfertigt. Das ist sehr stark ausgedrückt. Das wird getan, um Jerusalem die enorme Schuld zu verdeutlichen, die sie durch ihr böses Verhalten auf sich geladen hat. Natürlich bedeutet das nicht, dass es die Schuld von Sodom und Samaria mindert. Der Punkt ist, dass ihre Schuld im Vergleich zu Jerusalems Schuld klein erscheint.

Sodom und Samaria erhielten ihre verdiente Strafe für eine geringere Schuld als die von Jerusalem. Deshalb wird Jerusalem ganz sicher ihre Schmach tragen (Hes 16:52). Die Stadt hat sich auch in ihrem Stolz ein Urteil über Sodom und Samaria angemaßt und war dabei völlig blind für ihre eigenen abscheulichen Sünden. Noch einmal sagt der HERR, dass ihre eigenen Sünden so gräulich sind, dass Sodom und Samaria im Vergleich dazu gerechter erscheinen. Er ruft die Stadt auf, sich zu schämen und ihre Schmach zu tragen.

Verheißung der Wiederherstellung

Plötzlich ist von einer Wiederherstellung die Rede, die der HERR geben wird (Hes 16:53). Er wird die Gefangenschaft Sodoms und der benachbarten Städte und Samarias und der Städte in der Umgebung und Jerusalems wenden. Wie groß ist die Gnade Gottes! Zur Schmach Jerusalems wird diese Wiederherstellung zuerst an Sodom und Samaria geschehen (Hes 16:54). Der Trost, von dem hier gesprochen wird, ist auch zur Schmach Jerusalems, denn es ist der Trost Sodoms und Samarias, dass ihre Schlechtigkeit weniger schrecklich war als die Jerusalems.

Der HERR wird diese drei Städte mit ihren Einwohnern und den dazugehörigen Ortschaften in ihren früheren Zustand zurückversetzen, nämlich in den Zustand, bevor sie ihre Gräuel begingen (Hes 16:55). In ihrem Stolz wollte Jerusalem nicht einmal den Namen von Sodom aussprechen (Hes 16:56). Das geschah zu der Zeit, als Jerusalems Sünde noch nicht vollends offenbar geworden war (Hes 16:57). Aber diese Sünde ist nun deutlich ans Licht gekommen. Infolgedessen ist Jerusalem nun selbst ein Gegenstand des Hohnes der Nationen um sie herum. Ihr schändliches Verhalten und ihre Abscheulichkeiten werden auf ihr lasten (Hes 16:58).

All das geschieht mit Jerusalem, weil sie den Eid verachtet hat, mit dem sie sich dem HERRN verpflichtet hat (Hes 16:59). Was Jerusalem dem HERRN angetan hat, wird Er nun der Stadt antun. Er wird auch seinen Bund mit Jerusalem brechen und sie in Schande und Schmach stürzen.

Dass in Hes 16:55 von einer Wiederherstellung Sodoms die Rede ist, wirft die Frage auf, wie das geschehen kann. Immerhin wurde Sodom umgekehrt (1Mo 19:29). Nicht ein einziger Sodomit überlebte, und das Gebiet von Sodom wurde zu einer ewigen Einöde (5Mo 29:23; Jes 1:9; Jer 49:18; 2Pet 2:6; Jud 1:7). Wie steht es also mit der Wiederherstellung, von der der HERR hier spricht? Auf diese Frage geben die Kommentare keine eindeutige Antwort.

Der bekannte deutsche Schriftausleger Keil geht davon aus, dass dieser Vers von dem buchstäblichen Sodom spricht. Nur sieht er in diesem Vers die Erfüllung dieser Prophezeiung nicht in einer Wiederherstellung auf der Erde, sondern in der Ewigkeit. Im Licht dessen, was wir im Judasbrief lesen, kann das jedoch nicht die Erklärung sein. In Judas heißt es: „Wie Sodom und Gomorra und die umliegenden Städte, die sich, ebenso wie jene, der Hurerei ergaben und anderem Fleisch nachgingen, als ein Beispiel vorliegen, indem sie die Strafe des ewigen Feuers erleiden“ (Jud 1:7). Die Aussage von Keil könnte sogar als Stütze der Irrlehre der Allversöhnung gesehen werden. Anhänger der Irrlehre von der Allversöhnung benutzen diesen Vers als Argument für ihre Irrlehre. Dies ist mir in einem Briefwechsel deutlich geworden, den ich mit einem Anhänger dieser Lehre hatte.

Von den verschiedenen Erklärungen spricht mich die folgende Erklärung am meisten an und ich lege sie hiermit dem Leser zum Nachsinnen vor: Wir können hier Sodom in Bezug auf Lot und seine Nachkommenschaft sehen. Lot und seine Töchter waren die Einzigen, die in dem Gericht, das Gott über Sodom brachte, nicht umkamen. Lots Nachkommenschaft, die er mit seinen Töchtern zeugte, besteht aus Ammon und Moab (1Mo 19:30-38). Die Wiederherstellung Sodoms wird nach dieser Erklärung tatsächlich in der Wiederherstellung von Ammon und Moab stattfinden (Jer 48:47; Jer 49:6).

Der neue Bund mit Jerusalem

In seiner unerschütterlichen Treue, die in so scharfem Gegensatz zu Jerusalems Untreue steht, wird der HERR an seinen Bund mit ihnen in den Tagen ihrer Jugend denken (Hes 16:60). Er wird einen neuen Bund schließen und ihn selbst erfüllen (Jer 31:31-34; Jer 32:40; Heb 8:6-13). Weil es ein einseitiger Bund ist und dieser nur von seiner Treue abhängt, ist es „ein ewiger Bund“. Er kann nicht gebrochen werden, denn Er kann nicht untreu werden (2Tim 2:13). Sein Segen wird nach Jerusalem kommen, weil Er ihr Vergebung und neues Leben schenken wird, ein Leben, das sich danach sehnt, Ihm gehorsam zu sein.

Um in den Genuss der Segnungen dieses Bundes zu kommen, wird Jerusalem zu Reue und Umkehr kommen (Hes 16:61). Die Stadt wird sich tief schämen für ihre Sünden und die Wege, die sie gegangen ist. In dieser Erkenntnis wird sie andere Nationen akzeptieren und nicht mehr mit Verachtung auf sie herabschauen. Jerusalem wird eine Mutter sein und andere Völker als Töchter annehmen. Diese Völker sind ihr vom HERRN gegeben. Er tut dies nicht auf der Grundlage seines ersten Bundes mit ihr, den sie so schändlich gebrochen hat. Er tut es aufgrund des neuen Bundes, den Er mit ihr schließen wird (Hes 16:62). Daran wird sie erkennen, dass Er der HERR ist.

Sein Handeln in Gnade mit ihr auf der Grundlage des neuen Bundes wird sie beschämen (Hes 16:63). Sie wird erkennen, dass alles unverdient ist, und nicht mehr den Mund aufreißen, denn sie wird sich an die Schmach erinnern, die wegen ihrer Sünden über sie gekommen ist. Gleichzeitig werden alle Zweifel daran, dass sie vom HERRN angenommen ist, verschwunden sein, denn Er wird für alles, was sie falsch gemacht hat, Sühne geleistet haben. Wie beeindruckend ist das Wort „alles“. Was das alles bedeutet, sehen wir in diesem Kapitel. Alles, ohne Ausnahme, ist in der Versöhnung enthalten.

Diese Versöhnung und dieses glorreiche Ende Jerusalems kann nur geschehen, weil der Herr Jesus sein kostbares Blut gab. Gott handelt auf der Grundlage dessen, was Er durch seinen Sohn getan hat. Er hat alle Bedingungen des neuen Bundes erfüllt und deshalb kann der Segen für Gottes Volk endlich kommen. Angesichts der vielen Sünden, die in diesem Kapitel ausführlich aufgezählt werden, gibt es das alles überragende Werk Christi, dem alle Ehre für alle Ewigkeit gebührt.

Diese Geschichte kann auch zu uns sprechen. Unsere Herkunft und unser Verhalten (Hes 16:3; 4) sind seiner Liebe nicht würdig. „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht“ (Eph 2:4; 5a). Wie reagieren wir auf diese Liebe, die uns erwiesen wurde?

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