Job 4:19

Vision von Gottes Größe und Heiligkeit

Um seine Behauptungen aus Hiob 4:6 weiter zu untermauern – dass der Segen auf Gottesfurcht und Aufrichtigkeit folgt – kommt Eliphas mit einem Wort, das ihm in einer Vision gebracht wurde (Hiob 4:12). Es ist wieder ein Appell an seine eigene Erfahrung und Wahrnehmung. In Hiob 4:8 spricht er von dem Auge, was er gesehen hat; jetzt spricht er von „meinem Ohr“, was er gehört hat. Die Art und Weise, wie er dies tut, hat etwas Geheimnisvolles oder gar Mystisches. Es erinnert ein wenig an die Arbeitsweise falscher Propheten und Irrlehrer und an den Vorgehensweis des Satans, der sich „als Engel des Lichts“ (2Kor 11:14) präsentiert. Es ist ihm „verstohlen“ gebracht worden und sein Ohr hat „ein Geflüster“ davon vernommen. Es ist vage und für andere nicht überprüfbar.

Eliphas will Hiob noch mehr mit dem Gehörten beeindrucken, indem er ihm erzählt, wie beeindruckt er selbst von dem Wort ist, das ihm zugetragen wurde (Hiob 4:13). Es ist eine Anmerkung, die der Manipulation gleichkommt. Wenn jemand etwas aus dem Wort Gottes weitergeben will, ist es nicht notwendig, dass er zuerst darauf hinweist, was es bei ihm bewirkt hat. Wenn der Redner dies mit großem Nachdruck tut, besteht eine gute Chance, dass er und seine Erfahrungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Dann hat sich die Aufmerksamkeit auf subtile Weise von Gottes Wort auf den Sprecher verlagert.

Solche vagen Botschaften werden auch in der Christenheit zu Gehör gebracht. In manchen Kreisen hört man regelmäßig die Aussage „So spricht der Herr“, und dann folgt etwas, was die Hörer nicht in Zweifel ziehen dürfen. Oder es wird etwas weitergegeben, was der Herr angeblich jemandem klargemacht hat und was jeder im guten Glauben an den Redner – und nicht an das Wort Gottes! – annehmen und akzeptieren muss. Wir haben das ganze Wort Gottes als Prüfstein, und durch ihn muss die Wahrheit einer Aussage bestätigt werden, und wenn nicht, muss sie verworfen werden.

Eliphas verwendet Ausdrücke die von großer Beredsamkeit zeugen, die aber keinen einzigen Beweis für die Wahrheit seiner Behauptungen liefern. Er spricht von beängstigenden Gedanken an die Visionen in der Nacht. Es ist die Zeit, „wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt“. Der Ausdruck „tiefer Schlaf“ wird manchmal mit übernatürlichen Erfahrungen in Verbindung gebracht (1Mo 15:12; Hiob 33:15).

Er spricht auch von „Schauer“ und „Beben“, das über ihn kam und alle seine Gebeine durchschauerte (Hiob 4:14). Auch dies deutet auf eine übernatürliche Erfahrung hin. Er scheint zu sagen: „Hiob, was bei mir Ehrfurcht hervorgerufen hat, soll es auch bei dir tun. Du kannst das nicht einfach so ignorieren.“

Nachdem Eliphas so sein Erleben und seine Gefühle geschildert hat, erzählt er, was er gesehen hat: „Ein Geist zog vor meinem Angesicht vorüber“ (Hiob 4:15). Wieder erzählt er von den Gefühlen, die dies bei ihm auslöste: „das Haar meines Leibes starrte empor“, d. h., er hatte eine Gänsehaut vor lauter Angst oder wegen des übernatürlichen Charakters des Gesehenen. Dann blieb der Geist stehen (Hiob 4:16). Eliphas sah nichts Vertrautes in der Gestalt des Geistes. Er sah nur seine Umrisse vor seinen Augen. Dann herrscht für einige Zeit Stille, so als ob erst das richtige geistige Klima vorhanden sein muss, um die Botschaft zu hören und zu verstehen. Wir dürfen in solchen Fällen wohl zu Gott beten, um die Gabe der Unterscheidung der Geister zu erhalten (1Kor 12:10; 1Joh 4:1). Die hat Eliphas nicht ...

Der Geist stellt die Frage, ob ein (sterblicher) Mensch – und das wird Eliphas in seinen Gedanken auf Hiob anwenden – gerechter sein kann als Gott (Hiob 4:17). Dann stellt er die Frage, ob ein Mann – das wendet er gedanklich wieder auf Hiob an – reiner als sein Schöpfer sein könne. Bei beiden Fragen handelt es sich um Fragen, bei denen die Antwort in der Frage enthalten ist. Natürlich ist ein sterblicher Mensch nicht gerechter als Gott, und natürlich ist ein Mann nicht reiner als sein Schöpfer.

Eliphas spricht hier unwiderlegbare Wahrheiten aus, aber was nützt das Hiob? In jedem Fall wird es den Bedürfnissen des leidenden Hiob nicht gerecht. Es liegt keinerlei Trost für Hiob darin. Übrigens, wenn es wahr ist, dass alle Menschen vor Gott unrein sind und es keinen Gerechten vor Ihm gibt – und es ist wahr! –, dann würde Eliphas neben Hiob vor Gott Platz nehmen müssen. So weit wird er nicht kommen.

Übrigens wird diese Frage im Neuen Testament beantwortet. Im Brief an die Römer lesen wir über die Grundlage, auf der ein Mensch vor Gott gerecht und vor seinem Schöpfer rein sein kann. Diese Grundlage, so lehrt uns der Brief, liegt im Glauben an Christus und sein vollbrachtes Werk am Kreuz.

In diesem Gesicht wird der Mensch – und er meint Hiob – dann mit Gottes „Knechten“ und „seinen Engeln“ verglichen (Hiob 4:18). Seine Knechte sind Menschen, die Ihn kennen und Ihm dienen und sein Wort an andere weitergeben. Seine Engel sind heilige Wesen, die immer in Gottes Gegenwart sind. Aber auch sie sind nicht vollkommen. Seine Knechte haben zuweilen gesündigt, und Gott hat auch bei dem erhabensten Engel Irrtum gefunden (Hes 28:15) und ihn und seine Anhänger dafür gerichtet. Ihm entgeht nichts, was an denen, die im Himmel wohnen, Ungerechtigkeit ist.

Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für diejenigen, die mit der Erde verbunden sind (Hiob 4:19). Eliphas sagt bildlich, dass der Mensch in einem hinfälligen, leicht zerbrechlichen Lehmhaus wohnt, dessen Fundament in völlig kraftlosen Staub ist. Mit dem Lehmhaus meint er den Körper des Menschen (1Mo 2:7). Paulus nennt den Körper „ein irdenes Gefäß“ (2Kor 4:7).

Seine Fragilität und Zerbrechlichkeit wird durch den Vergleich mit dem Zertreten einer Motte anschaulich dargestellt. Wie Motten zertreten werden, so werden die Menschen „vom Morgen bis zum Abend … zerschmettert“ (Hiob 4:20). Es deutet auf die Kürze des menschlichen Lebens hin. Er wird sozusagen am Morgen geboren, und am Abend ist er nicht mehr da. Es ist so alltäglich, dass es von der breiten Masse unbemerkt bleibt, wenn ein Mensch stirbt.

Wenn ein Mensch stirbt, wird der Zeltstrick seines Lebens, mit dem er an die Erde gebunden war, „weggerissen“ (Hiob 4:21; vgl. Pred 12:6; 7a). Auch hier hören wir eine schöne Bildsprache, nämlich die des Abbruchs eines Zeltes, das mit Zeltschnüren am Boden befestigt wurde (vgl. Jes 38:12). Paulus vergleicht den physischen Tod mit dem „Abbruch“ „unseres irdischen Zeltes, in dem wir wohnen“ (2Kor 5:1).

So stirbt ein Mensch, „und nicht in Weisheit“, womit Eliphas meint, dass er als gottloser Mensch stirbt und das vor seiner Zeit. Wenn ein Leben plötzlich abgeschnitten wird, ist das für ihn der Beweis, dass es ein gottloses Leben gewesen sein muss. Ein solcher Mensch ist einer, der in seinem vergänglichen und kurzen Leben keine Weisheit erworben hat. Auch hier hören wir einen Vorwurf an Hiob, dass es ihm an Weisheit über Gott mangelt.

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