John 3:1-11

Nikodemus besucht den Herrn Jesus

Am Schluss des vorigen Kapitels haben wir gelesen, dass der Herr Jesus wusste, was im Menschen ist, und dass Er sich ihnen deshalb nicht anvertraute. Jetzt kommt ein Mensch zu Ihm. Es ist nicht irgendein Mensch. Es ist ein Mensch aus den Pharisäern. Sein Name wird genannt: Nikodemus, und auch seine Funktion: Er ist ein Oberster der Juden. Er ist also ein sehr religiöser Mensch, der bei seinem Volk in hohem Ansehen steht. Der Herr nennt ihn den „Lehrer Israels“ (Joh 3:10).

Nikodemus hat, genau wie seine Kollegen, die Zeichen gesehen, die der Herr getan hatte. Bei ihm hat das jedoch ein Verlangen nach dem Herrn Jesus bewirkt, wodurch er innerlich näher zu Gott gekommen ist und Ihn sucht. Er ist solch ein Einzelner in der Menge, der danach verlangt, Christus besser kennenzulernen. Deshalb sucht er Ihn auf, um Ihn persönlich zu treffen.

Als orthodoxer und dazu religiöser, vornehmer Jude hätte Nikodemus zum Tempel gehen müssen, und zwar tagsüber. Doch er geht nicht zum Tempel, sondern kommt zum Herrn, und zwar bei Nacht. Wer in seinem Gewissen angesprochen ist und Interesse an Christus zeigt, so wie Nikodemus, empfindet sofort, dass die Welt gegen ihn sein wird. Deshalb kommt er in der Nacht. Er fürchtet sich vor der Welt, weil er weiß, dass er es mit Gott zu tun hat, und auch, dass die Welt im Widerspruch zu Gott steht.

Nikodemus spricht den Herrn Jesus mit Rabbi an, das heißt Lehrer (Joh 1:38). Das ist der Titel, mit dem Schriftgelehrte von ihren Schülern angeredet wurden. Also erkennt er Ihn als Lehrer an. Er erklärt, dass er und seine Kollegen (er sagt „wir“) wissen, dass Christus als Lehrer von Gott gekommen ist. Die Zeichen, die sie von Ihm gesehen haben, sind nicht zu leugnen. So wie seine Kollegen ist Nikodemus davon überzeugt, dass Er ein besonderer Lehrer ist. Doch von der wahren Kenntnis über Ihn ist er noch weit entfernt. Er spricht über den Herrn als jemanden, von dem gesagt werden kann, dass Gott mit Ihm ist, als gehe es um einen Propheten.

Und doch gründet sich sein Interesse nicht nur auf eine bloße verstandesgemäße Überzeugung. Er hat ein tieferes Interesse, das vom Heiligen Geist gewirkt ist. Er ist sich dessen noch nicht bewusst, doch es treibt ihn zum Herrn. Freilich sieht er Ihn bis dahin nur als Lehrer und er sieht auch, dass Gott mit Ihm ist. Er meint, Ihm damit große Ehre zu erweisen, doch dabei wird er der Person des Herrn Jesus überhaupt nicht gerecht.

Übrigens ist es schön zu sehen, dass Christus für jeden, der aufrichtig sucht – und so jemand ist Nikodemus – jederzeit erreichbar ist, und sei es in der Nacht. Er macht Nikodemus keinen Vorwurf, dass er Ihn zu dieser Zeit aufsucht.

Das Gespräch, das sich zwischen dem Herrn und Nikodemus entwickelt, ist eines der mehr persönlichen Gespräche des Herrn Jesus, von denen Johannes in seinem Evangelium berichtet. Das ist für uns ein wichtiger Hinweis, dass auch wir einen Blick für den Einzelnen haben.

Die neue Geburt

Der Herr geht auf die Ehrbezeugung des Nikodemus und seiner Pharisäerkollegen nicht ein, sondern sagt ihm, was nötig ist, um Ihn wirklich kennenzulernen. Nikodemus benötigt keine Belehrung von dem Herrn als Lehrer, sondern eine völlig neue Natur. Das geht viel weiter, als lediglich im Gewissen überzeugt zu sein. Nikodemus kennt sich selbst noch nicht als völlig verdorben und geistlich tot in Sünden. Er hat es nötig, lebendig gemacht zu werden, und nicht eine neue Erkenntnis, die sein Leben bereichert.

Gott belehrt und verbessert die menschliche Natur nicht. Der Mensch muss im Kern seines Wesens erneuert werden. Ohne diese Erneuerung kann er das Reich Gottes nicht sehen. Das Reich Gottes steht hier vor Nikodemus. Es ist anwesend und sichtbar in dem Sohn des Zimmermanns (vgl. Lk 17:21). Um das sehen und innerlich erkennen zu können, muss jemand von neuem geboren werden, das heißt auf eine völlig neue Weise. Er muss aus einer völlig neuen Quelle neues Leben empfangen.

Die Erklärung, dass eine neue Geburt notwendig ist, leitet der Herr mit einem zweifachen „Wahrlich“ (griech. amen) ein. Dieses zweifache „Wahrlich“ kommt in diesem Evangelium 25-mal vor. Der Herr verdeutlicht damit die absolut feststehende Wahrheit dessen, was Er anschließend sagt, und unterstreicht die Bedeutung noch einmal mit „ich sage euch“.

Das eine wie das andere macht deutlich, wie wichtig das ist, was Er hier sagt. Es ist in der Tat von unermesslicher Bedeutung. Es ist die einzig mögliche Weise, um überhaupt etwas vom Reich Gottes sehen zu können. Wer nicht von neuem geboren ist, sieht nichts davon, auch wenn er in den Schriften noch so gut bewandert ist und eine noch solch hohe religiöse Stellung wie Nikodemus hat.

Fragen zur neuen Geburt

Nikodemus schaut nicht über den natürlichen Verlauf der Dinge hinaus. Das erkennt man an seiner Reaktion auf die Worte des Herrn. Er unterstellt etwas, was praktisch unmöglich ist. Das zeigt, dass er nicht versteht, was der Herr mit einer neuen Geburt aus einer völlig neuen Quelle meint.

Der Grund dafür ist, dass Nikodemus sich selbst noch nicht als Sünder erkannt hat. Sonst hätte er ‒ selbst wenn es möglich wäre, dass jemand zum zweiten Mal aus dem Schoß seiner Mutter geboren würde ‒ verstanden, dass das, was aus dem Fleisch geboren ist, immer noch Fleisch ist. Niemals kann etwas Reines aus etwas Unreinem hervorkommen (Hiob 14:4; Ps 51:7). Der Mensch bliebe immer gleich blind und könnte das Reich Gottes nicht sehen; er wäre also so weit davon entfernt wie eh und je.

Geboren werden aus Wasser und Geist

Wieder leitet der Herr seine Antwort mit den eindrucksvollen Worten „Wahrlich, wahrlich [Amen, Amen], ich sage euch“ ein. Damit unterstreicht Er wieder die Bedeutung der Worte, die Er nun spricht. Er weist darauf hin, dass zwei Dinge erforderlich sind, um von neuem geboren zu werden: Wasser und Geist. Er sagt nicht: „… aus Wasser und aus Geist“, sondern gebraucht nur einmal das Wörtchen „aus“. Dadurch werden Wasser und Geist sehr eng miteinander verbunden. Sie können nicht voneinander getrennt werden, sondern wirken untrennbar zusammen.

Bei „Wasser“ denken manche an das Wasser der Taufe. Aber das kann hier unmöglich gemeint sein. Wenn es hier um das Wasser der Taufe ginge, könnte jemand, der nicht getauft ist, nicht in das Reich Gottes eingehen. Das würde bedeuten, dass der Übeltäter am Kreuz, der sich bekehrte, nicht in das Reich Gottes hätte eingehen können. Doch der Herr hat ihm versichert, dass er mit Ihm im Paradies sein würde (Lk 23:43).

Andererseits würde jemand, wenn er getauft wird, dadurch eine neue Natur bekommen. Das wiederum würde bedeuten, dass nur die, die getauft sind, in das Reich Gottes eingehen, und auch, dass der, der getauft ist, niemals verlorengehen könnte, denn er hätte durch die Taufe ewiges Leben bekommen. Beide Lehren sind natürlich töricht. Zudem ist in Verbindung mit der Wassertaufe nirgends die Rede davon, dass jemand Leben bekommt, sie hat im Gegenteil mit dem Tod zu tun (Röm 6:3; 4).

Was bedeutet das Wasser denn dann? Das Wasser ist ein Bild vom Wort Gottes in seiner reinigenden Kraft (Ps 119:9; Joh 15:3; Eph 5:26). Der Herr Jesus spricht daher hier auch vom Wasser als der reinigenden Kraft des Wortes Gottes, das in der Kraft des Heiligen Geistes zur Anwendung kommt.

Wenn ein ungläubiger Mensch das Wort Gottes liest oder hört, wird das Wort sein ganzes Leben beurteilen. Er wird sich selbst als Sünder sehen. In demselben Augenblick, wo er das erkennt, wirken das Wort und der Geist in ihm neues Leben. Durch dieses neue Leben bekommt er neue Gedanken und neue Ziele. Er empfängt dadurch die Natur des Geistes, die in ihm wirkt. So jemand ist eine neue Schöpfung (2Kor 5:17; Gal 6:15).

In Joh 3:6 stellt der Herr fest, dass Fleisch immer Fleisch bleibt und dass das, was aus dem Geist geboren ist, an der Natur des Geistes teilhat. Jede der beiden Naturen bringt Früchte nach ihrer Art hervor (vgl. 1Mo 1:12). Damit unterstreicht Er das, was Er soeben darüber gesagt, dass jemand aus einer neuen Quelle geboren wird, aus dem Geist Gottes. Das Wasser wird in Joh 3:6 nicht erwähnt, weil es dort um das Kennzeichen des Wirkens des Geistes geht. Das Wort ohne den Geist bewirkt kein neues Leben, denn der Geist ist es, der lebendig macht und das Leben Christi mitteilt.

Es ist wichtig, deutlich zu sehen, dass die beiden Naturen, Fleisch und Geist, völlig voneinander getrennt bleiben. Sie sind in keiner Weise miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Es besteht eine fortwährende Feindschaft zwischen ihnen (Gal 5:17). Das „Fleisch“ kann niemals in „Geist“ verwandelt werden.

Der Herr sagt leicht tadelnd zu Nikodemus, dass er sich nicht über das zu wundern brauche, was Er ihm gesagt hat. Er weist auf eine allgemeine Wahrheit hin. Es heißt hier: „Ihr müsst von neuem geboren werden.“ Das ist Mehrzahl. Von „neuem geboren“ zu werden gilt sowohl für ihn persönlich als auch für den Juden und ganz allgemein für alle Menschen.

Nikodemus hätte als „der Lehrer Israels“ (Joh 3:10) aus Hesekiel 36 wissen können (Hes 36:24-36), worüber der Herr sprach. Dort geht es um eine gründliche Reinigung Israels, die das Volk zu Beginn des Friedensreiches erfahren wird. Nikodemus hat die Bedeutung dieses Wortes jedoch nicht erfasst, da er meinte, für ihn gelte das nicht. Dass Heiden gereinigt werden müssen, das kann er verstehen, aber er, als Jude …?

So wie der Wind ist auch der Geist unsichtbar („Wind“ und „Geist“ sind im Griechischen dasselbe Wort). Es bleibt für uns verborgen, woher der Wind kommt und wohin er weht (Hiob 38:24), doch wir können seine Wirkung wahrnehmen (Ps 29:5; Ps 107:25; 1Kön 19:11). So ist es auch mit dem Geist. Wenn jemand durch den Geist und durch das Wort von neuem geboren wird, weiß niemand, wie das genau geschieht. Der Geist kann ebenso wenig wie der Wind von uns kontrolliert oder gelenkt werden.

Wir können aber sehr wohl sein Wirken wahrnehmen. Das wird in jemandem sichtbar, der von neuem geboren ist, denn ab seiner neuen Geburt liebt er den Herrn Jesus, spricht mit Liebe von Ihm und tut seinen Willen. Das gilt für jeden „der aus dem Geist geboren ist“, also nicht nur für die Juden, sondern auch für die Heiden.

Wie kann dies geschehen?

Nikodemus reagiert wieder aus menschlicher Perspektive auf die Unterweisung des Herrn. Er fragt wie dies geschehen kann. Doch durch die Frage wird deutlich, dass die Erkenntnis bei ihm wächst, dass der Herr Jesus ihm die Wahrheit vorstellt. Er empfindet, dass der Herr den wahren Bedürfnissen seiner Seele begegnen kann. Weiter hören wir in diesem Abschnitt nichts mehr aus dem Mund des Nikodemus.

Das Irdische und das Himmlische

Der Herr beantwortet die Frage des Nikodemus zunächst wieder mit einem leichten Vorwurf. Nikodemus hätte doch wissen können, was Er meint, zumindest wenn er die Propheten aufmerksam gelesen hätte. Nikodemus kennt zwar die Propheten, nicht aber die wahre Bedeutung dessen, was sie gesagt haben. Sein Denken war nämlich auf die Herrlichkeit Israels und nicht auf die Herrlichkeit des Messias gerichtet. Als „der Lehrer Israels“ hätte er wissen müssen, was der Herr meint. Sicher wird er Abschnitte aus Jesaja 44 und 55 und die bereits angeführte Stelle in Hesekiel 36 oft genug überdacht haben (Jes 44:3; Jes 55:1; Hes 36:24-32). Weil er aber nicht von neuem geboren war, hat er deren wirkliche Bedeutung nie erfasst.

Nach diesem leichten Vorwurf beendet der Herr das Gespräch nicht, sondern belehrt ihn weiter und geht sogar auf die himmlischen Dinge ein. Zum dritten Mal gebraucht Er das zweifache „Wahrlich“ und fährt wieder fort, um die Wichtigkeit seiner Belehrung zu betonen: „… ich sage dir“. Er macht Nikodemus deutlich, dass die Dinge, über die Er spricht, nicht unbekannt sind. Er ist vollkommen befähigt, über die Dinge zu sprechen, die Er soeben gesagt hat, weil Er gesehen hat, was Er bezeugt. Nur Gott kann sagen, dass Er „weiß“, worüber Er spricht. Bei Ihm ist vollkommenes „Wissen“. Er besitzt die vollkommene Kenntnis des Wesens aller Dinge.

Der Herr Jesus weiß, was im Menschen ist, weil Er den Menschen kennt (Joh 2:25). Er weiß, was in Gott ist, denn Er kennt Gott, da Er selbst Gott ist. Er macht Gott bekannt (Joh 17:23). Der Herr spricht in der „Wir“-Form, weil Er gemeinsam mit dem Heiligen Geist Zeugnis ablegt. Er und der Heilige Geist sind göttliche Personen, die vollkommene Kenntnis aller Dinge haben. So wie der Sohn kennt auch der Heilige Geist vollkommen, was im Menschen ist und was in Gott ist. Damit ist Er vollständig vertraut. Niemand weiß, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes (1Kor 2:11).

Will ein Mensch Anteil daran haben und die göttlichen Dinge kennenlernen, muss er zuerst von neuem geboren werden und den Geist Gottes empfangen. Durch die neue Geburt ist er in der Lage, die Dinge Gottes kennenzulernen und zu begreifen. Der natürliche, nicht wiedergeborene Mensch nimmt die Dinge Gottes nicht an, weil sie geistlich beurteilt werden (1Kor 2:14). Er kann die Dinge nicht einmal annehmen, weil er das Leben nicht hat, das dafür notwendig ist.

Der Herr hat über die irdischen Dinge gesprochen, das sind die Dinge, die der Prophet Hesekiel mitgeteilt hat und die nötig sind, um an den irdischen Segnungen im Friedensreich teilhaben zu können. Die neue Geburt ist eine irdische Sache, die nötig ist, um in das irdische Friedensreich eingehen zu können. Schon das begreift Nikodemus nicht, wie soll er dann etwas begreifen, wenn der Herr über himmlische Dinge spricht?

Das Reich Gottes hat nämlich nicht nur irdische Aspekte, sondern auch himmlische (Heb 12:22-24; Eph 1:10; Kol 1:20). Die himmlischen Dinge werden uneingeschränkt durch den Geist offenbart, nachdem Christus sein Blut vergossen hat und in den Himmel aufgefahren ist. Doch im Sohn Gottes, der hier mit Nikodemus spricht, sind diese himmlischen Dinge in Vollkommenheit gegenwärtig. Nikodemus hat allerdings (noch) keinen Blick dafür.

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