Matthew 5:17-48

Das Gesetz und die Propheten

Was der Herr Jesus verkündigt, bedeutet nicht, dass das Alte zur Seite geschoben wird. Der Herr vollendet in seiner eigenen Person alles, was geschrieben steht; Er hat jede Forderung des Gesetzes erfüllt. Er hat sogar noch mehr getan. Er hat die wahre Bedeutung all dessen offenbart, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. Er ist die Erfüllung von all diesem, denn alles darin weist auf Ihn hin. Und alles, was geschrieben steht, wird auch wirklich geschehen. Ehrfurcht vor dem Wort Gottes kommt in Gehorsam zum Ausdruck. Danach können auch andere darüber belehrt werden. Wer aber auch nur die kleinste Vorschrift Gottes für bedeutungslos erklärt und auch andere so belehrt, der gilt nichts im Reich Gottes.

„Eure Gerechtigkeit“: die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer ist ihre eigene Gerechtigkeit, wofür sie den Lohn in Form von Achtung durch die Menschen schon empfangen haben. Diese ihre Gerechtigkeit reicht aber nicht aus, um in das Reich der Himmel einzugehen. Die Gerechtigkeit der Pharisäer, die aus täglichen Tempelbesuchen, langen Gebeten usw. besteht, hat vor Gott keinen Wert. Denn mit all diesem äußeren Gebaren ist kein Bewusstsein von Sünde oder von Gnade vor Gott verbunden. Gerade das aber ist notwendig, um in das Reich Gottes einzugehen.

Die vorzüglichere Gerechtigkeit ist die des göttlichen Gerichts über die Sünde. Wer anerkennt, dass Gott gerecht ist, indem Er dieses Gericht ausübt, der nimmt die richtige Stellung als überführter Sünder vor Gott ein und darf in das Reich der Himmel eingehen.

Totschlag und Zorn

Nun erklärt der Herr die tiefere, eigentliche Bedeutung des Gesetzes, und zwar mit fünf Beispielen. In dreien davon geht es um die Natur der Sünde: Gewalttat (Mt 5:21-26), Begierden (Mt 5:27-32) und Lügen (Mt 5:33-37).

Die letzten zwei zeigen die Natur Gottes: die Liebe (Mt 5:38-48). Mit diesen Beispielen verdeutlicht der Herr die Tiefe des Gesetzes und die Tatsache, dass die Zehn Gebote in einem höheren Gesetz aufgehen. Er erklärt, was nach dem Gesetz nicht erlaubt ist und worin das höhere Gesetz besteht. So stellt er dem negativen Tötungsverbot die positive Aufforderung der Wohltätigkeit gegenüber. Schließlich zeigt Er auf, was die Pharisäer noch hinzugefügt haben. Wenn Er sagt: „Ich aber sage euch“, zielt Er damit auf eine Vertiefung, Verschärfung bzw. Widerlegung.

Der Herr beginnt mit dem sechsten Gebot, das Gott gegeben hat: „Du sollst nicht töten“ – mit der Hinzufügung der Pharisäer: „Wer tötet, wird dem Gericht verfallen sein.“ Mit dieser Hinzufügung haben die Pharisäer den Totschlag zu einer Sache gemacht, die ein lokales Gericht abhandeln kann. Der Herr Jesus stellt dieser Leichtfertigkeit der Pharisäer aber eine ernsthaftere Auffassung des Gesetzes gegenüber. In seiner Belehrung wendet Er die Tötung auch auf das Ausschelten eines Menschen an: Darin offenbart sich nämlich die Gesinnung des Herzens. Mit dem heftiger werdenden Schelten verbindet Er auch schwerere Strafen.

So macht der Herr deutlich, dass es nie um die äußere Tat allein geht, sondern um den Herzenszustand, der dabei deutlich wird. Deshalb behandelt Er in der gleichen Kategorie des Totschlags jede Art von Gewalt, ob sie sich nur in Gefühlen oder in einer Tat äußert, jede Verachtung und jeden Hass, worin die böse Gesinnung des Herzens zum Ausdruck kommt.

Nach diesen Ausdrucksformen, die die Gesinnung des Herzens offenbar machen, spricht der Herr nun über das Darbringen von Opfern. Gott kann ein Opfer nur von solchen Menschen annehmen, die mit ihren Nächsten in Frieden leben. Wenn ein Mensch nämlich seinem Nächsten etwas angetan oder etwas gegen ihn gesagt hat, weswegen sein Nächster etwas gegen ihn hat, dann muss er sich zuerst mit seinem Nächsten versöhnen. Erst nach der Versöhnung kann Gott seine Annäherung und sein Opfer annehmen. Dabei ist es wichtig, die Aussöhnung mit der Gegenpartei zügig anzustreben. Wenn jemand die Versöhnung für unwichtig hält, wird dies später zu seinem Fall führen. In prophetischem Sinn spricht der Herr auch darüber, was das Volk zu erwarten hat, wenn es Ihm gegenüber nicht wohlgesonnen ist. Er ist nämlich ihre Gegenpartei, denn sie behandeln Ihn völlig respektlos, sie nehmen Ihn nicht an und werden Ihn sogar verwerfen und töten. Deshalb werden sie ihrer Strafe nicht entkommen, noch nicht einmal Erleichterung erfahren, sondern sie in vollem Umfang erleiden müssen.

Hurerei und Ehescheidung

Das zweite Gebot, das der Herr erwähnt und ausweitet, ist das Gebot „du sollst nicht ehebrechen“. Hier macht Er deutlich, dass jemand nicht erst durch begangenen Ehebruch schuldig wird, sondern schon durch das begehrliche Ansehen einer Frau. Damit zeigt Er den Ursprung an: das ehebrecherische Herz. Um dem Gericht der Hölle zu entgehen, das auf solche Taten folgt, ist radikales Selbstgericht notwendig. Kein Opfer kann zu groß sein, wenn es dazu verhilft, vor der Hölle bewahrt zu werden, die am Ende eines solchen Weges wartet. Wir sollen uns selbst nicht in Versuchung bringen und uns nicht einer Gefahr aussetzen, durch die wir moralisch zu Fall kommen könnten. Alles, was uns irgendwie zur Sünde verleiten kann, muss erbarmungslos aus unserem Leben oder Haus entfernt werden. Das Auge ist Symbol für das, was wir sehen, die Hand für das, was wir tun. Das Anschauen von Dingen, die uns auf sündige Gedanken bringen, müssen wir unbedingt vermeiden; ebenso alle Situationen, die uns zu verkehrten Taten verführen können.

Mit den Worten „Es ist aber gesagt“ (Mt 5:31) ergänzt der Herr eine Redensart, die von Menschen dem Gesetz hinzugefügt worden ist. Es wird zwar im Gesetz von einem Scheidebrief gesprochen (5Mo 24:1-4). Dort bedeutet es, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, sobald ein Scheidebrief mitgegeben worden ist. Die Absicht dabei ist aber, dass jemand es sich lieber zweimal überlegen soll, bevor er einen solchen Scheidebrief ausstellt. Die Israeliten hatten allerdings daraus gemacht: „Du kannst dich ruhig trennen, wenn du nur einen Scheidebrief mitgibst“. Damit wird aber die von Gott eingesetzte Ehe geschwächt.

Diesem von Menschen eingeführten Zusatz stellt der Herr sein „Ich aber sage euch“ entgegen. Mit diesen immer wiederkehrenden Worten sagt der Herr, dass die von Mose erlassene Ordnung nicht den ganzen Willen Gottes zum Ausdruck bringt. Damit widerspricht Er Mose nicht, nimmt auch von den Anweisungen Moses nichts weg, sondern ergänzt sie zu ihrer vollen Bedeutung. Zur Frage der Ehescheidung spricht Er also eine klare Absage aus: Wer die Ehe auflöst, leistet der Hurerei Vorschub. Dies gilt sowohl für die verstoßene Frau, die wieder heiratet, als auch für den Mann, der eine verstoßene Frau heiratet. Die Ehe ist für Gott ein unauflöslicher Bund. Er hasst Ehescheidung (Mal 2:16).

Die einzige Situation, in der eine Ehefrau entlassen werden kann, ist, wenn sie Hurerei begangen hat. Beachte, dass hier nicht steht: Ehebruch, sondern Hurerei. Was der Herr damit meint, ist z. B. die Situation von Joseph und Maria (Mt 1:18; 19). Joseph und Maria waren verlobt (Mt 1:18). Es hatte also noch kein Ehevollzug stattgefunden. Dennoch nennt der Heilige Geist Joseph den Mann Marias (Mt 1:19), und der Engel des Herrn spricht zu Joseph und nennt dabei Maria seine Frau. Das zeigt, dass der Verlobungszustand der Ehe nahezu gleich ist. Wenn in diesem Zustand einer der beiden mit einem Dritten Geschlechtsgemeinschaft hat, ist das nicht Ehebruch, sondern Hurerei. In einem solchen Fall gibt der Herr hier die Möglichkeit der Entlassung. Das wollte Joseph auch mit Maria tun (Mt 1:19) und wird deswegen durchaus nicht von dem Engel des Herrn ermahnt. Als Joseph nun hört, was wirklich geschehen ist, nimmt er Maria wieder zu sich.

Das Schwören

Der Eid, von dem der Herr Jesus hier spricht, bezieht sich auf den menschlichen Umgang im Alltagsleben. Viele sind gewohnt, wenn ihre Worte in Zweifel gezogen werden, sie mit einem Eid zu bekräftigen. Auch ein Versprechen, eine Zusage kann so verstärkt werden. Allerdings sagen Menschen häufig mehr als sie wirklich meinen oder einhalten können. Ein falscher Eid ist ein Versprechen, das bewusst oder unbewusst nicht eingehalten wird, beziehungsweise ein im Übermut ausgesprochener Eid, wodurch ein großer Mangel an Selbsterkenntnis offenbar wird. So werden großsprecherische Vorsätze angekündigt, aus denen aber in der Praxis nichts wird. Die eigenen Möglichkeiten werden überschätzt oder heuchlerisch angepriesen, und andere müssen die nachteiligen Folgen tragen. Deshalb zeigt der Herr, wie unangebracht jedes Selbstvertrauen ist.

Dabei geht es hier nicht um einen Eid vor der Obrigkeit. Ein solcher Eid ist nicht mehr als die Anerkennung der Autorität Gottes, um vor seinem Angesicht und mit seiner Hilfe beispielsweise die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Der Herr Jesus schweigt zu allen Vorwürfen, die der Hohepriester vorbringt, als dieser Ihn aber mit einem Eid beschwört, antwortet Er.

Mit einem „Ich aber sage euch“ bindet der Herr seinen Jüngern aufs Herz, dass es besser ist, überhaupt nicht zu schwören und vom Gebrauch jeder Art von Bekräftigungsfloskeln abzusehen. Die Juden berufen sich beim Schwören auf allerlei höhere Instanzen. Damit beanspruchen sie, dass hinter ihren Worten eine höhere Autorität steht und dass ihre Worte deshalb vertrauenswürdig sind. Ein solcher Anspruch ist aber äußerst unangebracht und irreführend. Wir dürfen Gott und alles, was mit Ihm in Verbindung steht, nicht auf unser Niveau herabziehen. Er erwartet von uns, dass wir vertrauenswürdig sind. Wenn wir „ja“ sagen, dann meinen wir auch „ja“ und handeln entsprechend. Entsprechendes gilt für das Neinsagen.

Ein Mensch, der fast jede Äußerung mit einer Schwurformel bekräftigt, ist nicht vertrauenswürdig – auch nicht in seinen alltäglichen Aussagen. Wer wirklich vertrauenswürdig ist, braucht das nicht mit verschiedensten Kraftformeln zu unterstreichen. Ein solcher Sprachgebrauch kommt nicht von Gott, sondern aus dem Bösen, dem Satan.

Vergelten

Was das Gesetz fordert, ist immer gerecht. Darum ist auch nichts Falsches an dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“; wobei nur darauf hinzuweisen ist, dass dieses von einem ordentlichen Gericht angewandt werden muss, nicht aber im Rahmen persönlicher Vergeltung. Das ist es, was sie gehört haben. Die Gnade aber geht weit darüber hinaus. Darauf weist der Herr hin, wenn Er jetzt sagt: „Ich aber sage euch“. Und dann zeigt Er, in welchem Geist seine Jünger handeln sollen, so wie Er es in vollkommener Weise tut. Das bedeutet, dass wir uns gegen einen bösen Mitmenschen nicht wehren und dass bereit sind, uns nicht nur ein bisschen, sondern tief zu erniedrigen. Wir beharren nicht auf unseren Rechten, sondern wir gewähren mehr als von uns verlangt wird. Wir gehen noch weiter mit als man von uns erzwingt. Auch sind wir bereit, abzugeben und zu leihen, wenn wir darum gebeten werden.

So wie der Herr in den vorigen Versen den Charakter von Gewalt und Verderbnis offenbart hat, so zeigt Er hier, wie an die Gesinnung und das Herz des Christen appelliert wird. Dabei muss es allerdings um echte Not gehen, nicht etwa darum, einer Bitte nachzugeben, durch die weltliche Begierden erfüllt werden sollen. Ein Christ sollte über eine Verpflichtung hinausgehen und nicht als jemand bekannt sein, der immer so viel wie möglich für sich herausschindet.

Liebe zu Feinden

Der erste Teil dessen, was sie gehört haben, „Ihr sollt euren Nächsten lieben“, steht im Gesetz (3Mo 19:19). In der Praxis bedeutet das für die Pharisäer, dass sie nur ihre Parteigenossen lieben, denn nur diese betrachten sie als ihre Nächsten. Auch Jünger des Herrn laufen Gefahr, die Nächstenliebe auf ihre Glaubensgenossen zu beschränken. Der zweite Teil, „euren Feind hassen“, ist eine selbstgemachte Hinzufügung. Mit dem bekannten „Ich aber sage euch“ vertieft der Herr nun die Überlieferung und verleiht ihr ihre wahre Bedeutung und Kraft. Er zeigt, dass auch der Feind ein Nächster ist, den wir lieben sollen. In dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist Er darin selbst das Vorbild (Lk 10:29-37). Wo Er Not sieht, öffnet Er sein Herz, ungeachtet dessen, wie man Ihn dafür behandelt. Jeder empfangene Undank, sogar Ablehnung und Tod, können Ihn nicht davon zurückhalten, seiner Natur gemäß zu handeln; und diese besteht in vollkommener Liebe und hingebender Güte. So handelt Er, weil sein Vater so ist, und Ihn will Er verherrlichen. Gerade der Nächste muss ein Spiegelbild des Vaters sehen, indem die Söhne des Vaters würdig leben.

Gott wird hier nicht als Gesetzgeber vorgestellt, sondern als Vater. Das ist ein völlig neues Licht, in dem Gott gesehen wird. Gott als Vater beherrscht hier die Unterweisung des Herrn. Uns geziemt es, uns n der Praxis als Söhne unseres himmlischen Vaters zu erweisen, denn ein Sohn ist dann vollkommen, wenn er so ist wie der Vater.

Dann geht es nicht mehr darum, wie der andere sich mir gegenüber verhält („liebt er mich?“) oder wer der andere für mich ist („ist er mein Bruder?“). Das wäre die Sichtweise der Menschen in dieser Welt. Es geht aber gerade darum, dass wir allen unseren Mitmenschen, selbst unseren Feinden, zu erkennen geben, wer unser himmlischer Vater ist. Das komplette Verhalten der Jünger soll auf ihren Vater im Himmel hinweisen.

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