Psalms 12

Kapitel 12

Psalm 12 gehört zu den sog. „Feindklagen“: Eine Gruppe Frommer wird von Feinden bedrängt und der Psalmist beklagt sich darüber bei Gott, damit dieser ihnen hilft. V. 1 nennt man die „Psalmenüberschrift“. Diese Psalmenüberschriften wurden nachträglich zu den Psalmen hinzugefügt; über ihren Sinn weiß man immer noch nichts Genaueres und auch die Bedeutung der einzelnen Vokabeln ist hier wie meist unklar. Doch da es sich um nachträgliche Hinzufügungen handelt, wirkt sich das glücklicherweise nicht allzu nachteilig auf das Verständnis des Psalms im Ganzen aus. Mit Vv. 2-3 beginnt der eigentliche Psalm zunächst mit der kurzen „Anrufung“ in V. 2a, die JHWHs Aufmerksamkeit auf den Beter lenken soll. Darauf folgt eine „Klage“: Die Frommen und Treuen, d.h. (auch): die JHWH-Gläubigen schwinden dahin; statt Frömmigkeit und Treue herrscht allüberall ein Geist der Lüge, Glattzüngigkeit und „Doppelherzigkeit“. Thematisch und sogar stilistisch entsprechen diesen Versen Vv. 8-9: Weil „der Fromme“ und „die Treuen“ dahinschwinden (V. 2), soll JHWH „sie“ behüten und „ihn“ beschützen (V. 8; zwei sog. „N-Shifts“, s. FN m). Allüberall herrscht Lüge (V. 3); ja: die Bösen sind allgegenwärtig (V. 9). In Vv. 4-5 folgt die „Verwünschung“ der Feinde (vgl. Gerstenberger 1991, S. 80): JHWH soll die Bösen vernichten. Diese Verwünschung ist suggestiv formuliert: in diesem Abschnitt wird nicht mehr die Allgegenwart der Lüge beklagt, sondern die Vermessenheit der Bösen, die sich mit Lippen und Zunge sogar gegen Gott auflehnen - Gott soll zum Handeln bewegt werden. Diese Verwünschung der Feinde wird in Vv. 6-7 kontrastiert mit einem Wunsch über die „Elenden und Armen“. Erwünscht wird ein Heilsorakel vonseiten Gottes, der in diesem Orakel die Rettung der Armen ankündigt. Und ganz im Gegensatz zu den Lügenreden der Bösen sollen diese Worte Gottes wahre Worte sein, „reine“ Worte, rein wie siebenfach geläutertes Silber. Diesem Wunsch wird dann in V. 8 mit einer direkt an Gott gerichteten „Bitte“ Ausdruck verliehen: Gott möge die Armen und Elenden beschützen und behüten. Daran schließt sich, um Gott zum Handeln zu motivieren, in V. 9 eine weitere Miniklage über die aktuelle Situation an: Gottes Heilsorakel ist noch nicht ergangen; weiterhin finden sich allüberall die Bösen und weiterhin ist „das Verachtenswerte hoch bei den Menschenkindern.“ Die „Selbigkeit“ des Status Quo wird darüber hinaus nicht nur durch die thematischen und stilistischen Entsprechungen zwischen Vv. 2-3 und Vv. 8-9 unterstrichen, sondern zusätzlich noch mit der Wiederholung der Fügung „Menschenkinder“ aus V. 2. Sehr treffend schließt daher an Ps 12 der 13. Psalm an, der da beginnt: „Bis wann, JHWH, willst du mich so gänzlich vergessen?“ Wann endlich ändert sich der Status Quo? Hilf doch, JHWH! 1
[Status: Zuverlässig]
''Für den Chorleiter (Dirigenten, Singenden, Musizierenden)''.
Chorleiter - Heb. menatseach; genaue Bedeutung unklar. Die Primärübersetzung „Chorleiter“ ist mehr oder weniger Konvention. S. noch nächste FN.
`al-hascheminit ''([Vorzutragen] von Basstimmen; [Vorzutragen vom] Vorsteher über [das Ritual] „hascheminit“)''.
`al-hascheminit ([vorzutragen] von Bassstimmen; [Vorzutragen vom] Vorsteher über [das Ritual] „hascheminit“) - rätselhafter Begriff, der sich auch im Titel von Ps 6,1 findet. Wegen 1 Chr 15,20f., wo sich das Wort neben `alamot findet, was oft als „Jungfrauenweise“=„hohe Gesangsstimme“ gedeutet wird, geht man häufig davon aus, dass er etwas mit der musikalischen Begleitung oder Vortragsweise des Psalms zu tun habe und schließt davon dann z.B. auf die Bedeutungen „Für die Bassstimme“ (so z.B. Craigie 1983), „in der achten Tonart“ (so z.B. Werner 1959, S. 384-388) oder „[zu spielen] auf der achtseitigen Harfe“ (so z.B. Kraus 1961, S. XXVIII). Dass in den sog. „Psalmenüberschriften“ Angaben zur Vortragsweise der Psalmen stehen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Einen wahrscheinlicheren Vorschlag zu ihrem Verständnis hat 1970 John Sawyer gemacht (s. Sawyer 2011b): In akkadischen Ritualtexten gibt es ähnliche Angaben wie in den Psalmüberschriften; u.a. wird dort häufig spezifiziert, wer den folgenden Text vorzutragen hat und welches Ritual Anlass des jeweiligen Ritualtextes ist. Entsprechend wäre dann in den Psalmen der menatseach nicht der „Chorleiter“ und hascheminit nicht die Melodie, sondern der menatseach wäre Vorsteher über das Ritual mit dem Namen hascheminit, bei dem der Psalm vorzuträgen wäre. Doch ist auch dies nur ein „educated guess“ und „Chorleiter“ und die Deutung von hascheminit als Angabe zur Vortragsweise des Psalms sind in dt. Üss. so etabliert, dass die LF doch besser dieser Deutung folgen sollte: „Für den Chorleiter. [Vorzutragen] von Bassstimmen“.
''Ein Psalm (begleitetes Lied) von (für, über, nach Art von) David.''
2Hilf (Rette),
Hilf! - Kürzestmöglicher Hilferuf; selbst der Empfänger der Rettung Gottes wird hier nicht genannt, was so ungewöhnlich ist, dass LXX ergänzt: „Hilf mir!“. Gut daher der Vorschlag einer stiltreuen Übersetzung von Ruiz 2013, S. 129 FN 13: „Hilfe!“
JHWH, denn [der] Fromme (Frömmigkeit) endet (ist geendet),Denn [die] Treuen (Treue) gehen zugrunde (sind zugrunde gegangen)
Textkritik: gehen zugrunde - Heb. pasu; das Wort findet sich einzig hier in der Bibel; die Bed. ist daher unklar. Tg aber hat sapu und auch die Übersetzung von LXX legt nahe, dass in dem ihr vorliegenden Text sapu stand; ein recht häufiges Wort mit der Bed. „zugrunde gehen“. Weil außerdem einige Handschriften den Text korrigieren zu patsu, muss man davon ausgehen, dass im MT ein Schreibfehler vorliegt und der urspr. Text in der Tat sapu gelautet hat; so auch BHS; Ges18, S. 877; KBL3, S. 705.
unter den Menschenkindern!

3Erlogenes sagt jeder seinem Nächsten;
jeder seinem Nächsten - d.h. „alle lügen einander an“; zur Konstruktion vgl. Bar-Asher Siegal 2012. Gut daher HfA, NGÜ: „Jeder belügt jeden.“
[Mit] glatter Lippe,
Mit glatter Lippe - stehender Ausdruck für „heuchlerisch“, s. noch Ps 5,10; 55,22; Röm 3,13 und vgl. z.B. ThWAT II, S. 1012.
mit Herz und Herz
mit Herz und Herz - Entweder zu erklären als „mit doppeltem Herzen, dem einen in der Brust und dem andern, davon verschiedenen und deshalb falschen, auf der Zunge“ (Olshausen 1853, S. 72) oder „mit doppelter, zweideutiger Gesinnung“ (Herkenne 1936, S. 74), also: „unaufrichtig“. Der Sinn ist also: „Jeder belügt jeden; spricht doppelzüngig, unaufrichtig!“
sprechen sie!

4JHWH möge vernichten (abschneiden) alle glatten Lippen,[Die] Zunge, die Großes (Vermessenes) spricht,

5[Sie], sie [vorher] gesagt haben: „Mit unserer Zunge sind wir stark (unserer Zunge verschaffen wir Stärke?, über unsere Zunge herrschen wir?)Unsere Lippen [sind] mit uns (gehören uns) - wer [also] [will da] Herr über uns [sein]?“

6„Wegen der Gewalt gegen [die] Elenden, wegen dem Ächzen [der] Armen - Jetzt werde (will) ich mich erheben“,
Ich werde ich mich erheben, d.h. werde aktiv, anstatt, wie bisher, nichts gegen die Sünden der Glattlippigen und Doppelzüngigen zu unternehmen.
möge (wird) JHWH sprechen (spricht JHWH?);
möge (wird) JHWH sprechen (spricht JHWH?) - Wichtige Stelle; das Verb wird leider selten kommentiert. Das Verb „sprechen“ steht in der Verbform „Yiqtol“, nicht gesagt wird also, dass JHWH etwas gesagt habe oder aktuell etwas sagt, sondern dass er etwas sagen soll (Alexander 1850)/wird (Eerdmans 1947) oder immer wieder etwas sagt (am besten Kissane 1953, S. 51: „Hier wird wahrscheinlich keine wirkliche Prophezeiung zitiert, sondern nur der traditionelle Glaube an die Rache [Gottes] in der Form einer Prophetie ausgedrückt“). S. dazu die Anmerkungen. Vgl. allerdings auch Zuber 1985, S. 131-133, der mit Jes 1,11.18; 40,1.25; 41,21 fünf weitere Stellen mit einem ähnlich schwer erklärbaren „sagen“ im Yiqtol sammelt (evt. auch Jes 33,10, wo aber 1QJesa Qatal hat und also ein Schreibfehler im MT vorliegen könnte).
„Ich werde (will) in Sicherheit bringen (ins Heil versetzen) [den, der] danach seufzt (gegen den man schnaubt, will seinen Zeugen in Sicherheit bringen, will ihm zum Heil einen Zeugen stellen).“
[den, der] danach seufzt (gegen den man schnaubt, will seinen Zeugen in Sicherheit bringen, will ihm zum Heil einen Zeugen stellen) - Die us. Alternativübersetzungen gehen alle auf Vorschläge zur Deutung derselben zwei Worte zurück. Die Primärübersetzung ist aber doch die wahrscheinlichste. Zu „gegen den man schnaubt“ s. Ps 10,5 und dazu FN o; so z.B. Koenen 1996, S. 6. In Ps 10,5 wird aber wird eine andere Präposition verwendet. Zu „seinen Zeugen in Sicherheit bringen“ vgl. v.a. Miller 1979, zu „ihm einen Zeugen stellen“ Janzen 2004; besagter „Zeuge“ würde aber in diesem Psalm auftauchen wie ein Deus ex machina. „Der danach seufzt“ dagegen lässt sich gut aus dem „ächzenden Armen“ in V. 6a erklären; vgl. dazu v.a. Hab 2,3.


7[Und diese] Aussagen von JHWH [mögen sein (sind)] reine Aussagen,Silber, [das] geläutert [wurde] ???,
??? - Heb. ba`alil; Bed. heute und schon den alten Üss. ganz unklar. In die LF sollte daher eine verbreitete und unauffällige Üs. übernommen werden; am besten: „Silber, das veredelt wurde im Schmelztiegel, / das mit Erde siebenfach geläutert wurde.“ (ähnlich z.B. ZÜR). Gemeint ist dann Folgendes: Silber wurde im Alten Israel v.a. aus Blei-Silbererz gewonnen, indem es vom Blei getrennt wurde. Geschmolzenes Blei hat eine geringere Oberflächenspannung als Silber; schmolz man daher die Blei-Silbermischung in einer sog. „Kupelle“ - einem mit Lehm, Knochenasche oder einer anderen porösen Substanz ausgekleideten Schmelztiegel -, wurde das Blei von dieser Auskleidung aufgesogen, während das Silber als eine kleine geschmolzene Kugel am Boden der Kupelle zurückblieb. Dieser Vorgang wird in unserem Vers sieben Mal wiederholt; was übrig bleibt, ist also denkbar reines Silber. Dass Gottes „Aussagen“ mit diesem Silber verglichen werden, bringt sie in einen starken Kontrast zu den anmaßenden Lügenreden, die in Vv. 2-5 beklagt werden.
[Das] siebenfach in die Erde veredelt [wurde].

8Du, JHWH,
Du, JHWH findet sich häufig zur Einleitung einer Bitte, nachdem zuvor in einem anderen „Modus“ gesprochen wurde (s. Ps 22,20; 40,12; 41,11; 59,6; 109,21), und ist daher wahrscheinlich eine Art „stärkerer Vokativ“, der Gott signalisieren soll, dass der Beter sich jetzt wieder mit einer Bitte an ihn richtet. Im Dt. entspräche dem eher ein „JHWH! Behüte...“
mögest (wirst) sie
Sowohl sie als auch ihn in V. 8 bezieht sich am wahrscheinlichsten auf die Armen in V. 6. Wegen diesem Numerus-Wechsel wurde früher häufig der Text korrigiert, doch das ist unnötig: N-Shift: Aus poetischen Gründen kann in der heb. Lyrik von einer Zeile auf die andere von einem Numerus zum nächsten gewechselt werden, ohne, dass dies einen Bedeutungsunterschied machen würde. In Ps 12 findet sich noch häufiger: V. 2a: „der Fromme“ - 2b: „die Treuen“; V. 6a: „die Elenden und Armen“ - 6c: „der, der danach seufzt / auf den man schnaubt“ (vgl. gut Ruiz 2013, S. 129.130).
behüten (sie (=die Worte) halten?),Mögest (wirst) ihn schützen vor diesem (dem) Geschlecht auf ewig (diesem Geschlecht, das ewig [währt])!

Rings (im Kreis) gehen Böse einher,Da Verachtenswertes hoch ist (wird)
hoch ist (wird) - d.h. „hoch im Kurs steht“ oder „immer schlimmer wird“. „Verachtenswertes“ findet sich nur hier in der Bibel; die Bed. ist also etwas unsicher, heute aber recht unumstritten.
bei den Menschenkindern.
V. 9 wird gern mit einem „auch, wenn“ an V. 8 angeschlossen: „Du, JHWH, mögest sie vor diesem Geschlecht beschützen, / auch, wenn ringsum die Bösen einherschreiten.“ Das hat keine Basis im Text und ist abzulehnen (so richtig Rong 2012, S. 158). Allenfalls vielleicht möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich: „... vor diesem Geschlecht, / [die] sich ringsum als Böse ergehen.“ (so Scoralick 2013, S. 189). Ganz untypisch kehrt also der Psalm nach seiner Bitte an Gott noch einmal zur Schilderung der schlimmen Situation zurück, was durch die Wiederholung des Begriffs „Menschenkinder“ aus dem Beginn des Psalms zusätzlich unterstrichen wird. Früher hat das viele Textkorrektur-Vorschläge veranlasst; definitiv am sinnvollsten Zorell 1929, S. 100: kerum [kerom] zullut („Schneide ab/vernichte [die] Gemeinheit!“).


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