Lamentations 3:1-3

Der Mann, der Elend gesehen hat

In Klgl 3:1 gibt es eine neue „Ich“-Person. In Klagelieder 1 ist die „Ich“-Person die Stadt, die über das Leid spricht, das über sie gekommen ist. In Klagelieder 2 ist es Jeremia, der von und zu der Stadt spricht, damit sie ihre Klage vor dem HERRN ausspricht. Kapitel 2 schließt dann auch damit. Nun kommen wir zu einem dritten „Ich“. Die Stadt hat in der weiblichen Form gesprochen. Doch jetzt spricht ein Mann. Es ist jemand aus dem Volk, der selbst das Leid erfahren hat und es nun als sein persönliches Leid beschreibt. Wer sonst könnte das sein als Jeremia?

Das Wort „gesehen“ beinhaltet hier nicht nur das Beobachten, sondern auch das Teilnehmen daran. Es bedeutet hier ein tatsächliches Erleben. Darüber hinaus zeigt sich, dass dieser Mann unschuldig ist. Er macht sich zwar eins mit dem schuldigen Volk und spricht von „wir“, aber persönlich kann er in Klgl 3:52 sagen, dass seine Feinde ihn ohne Ursache verfolgen. Das kann das Volk in Klagelieder 1 nicht sagen. Sie sind alle mitschuldig. Doch hier spricht jemand ganz persönlich, jemand aus dem schuldigen Volk, der aber selbst unschuldig ist.

Wir hören hier auch die Stimme des Heiligen Geistes, der in dem Überrest aus der damaligen Zeit spricht. So wird es in der Zukunft sein. Der treue Überrest wird alles mit erleiden müssen. Sie werden doppelt leiden: sowohl von außen durch die Hand der Feinde als auch von innen durch das abtrünnige Volk.

Das hat der Herr Jesus erfahren, der sich mit diesem Überrest eins macht. Wir hören das oft in den Psalmen. Seine Stimme macht sich eins mit der des Überrestes. Wir hören den Unschuldigen sprechen: „Ich bin der Mann.“ Die Rute des Grimmes Gottes kam auf Ihn herab.

Die Tiefe des Leidens, das Jeremia erfährt, kommt in den Klgl 3:1-3 in den drei Klagen zum Ausdruck. Er hat Elend „gesehen“, erlebt und erfahren,

1. durch die Rute des Grimmes des HERRN (Klgl 3:1),

2. weil der HERR ihn in die Finsternis geführt hat (Klgl 3:2),

3. weil der HERR immer wieder seine Hand gegen ihn wendet (Klgl 3:3).

Im Gegensatz zu der Erwartung, von Gott als seinem Hirten ins Licht und in die Freude geführt zu werden, ist er in die Finsternis, ins Elend, geleitet worden (Klgl 3:2). Das Wort für „geleitet“ hat nicht die Bedeutung von Gottes gnädiger Führung, sondern es bedeutet, getrieben zu werden wie Tiere. Jeremia wurde mit der Rute des Grimmes Gottes hart getrieben.

Er leidet ohne Unterlass (Klgl 3:3). Es geht weiter und weiter, ohne einen Moment des Verschnaufens. Wir können an die große Drangsal für den Überrest denken, aber auch an den Herrn Jesus und sein Leiden am Kreuz.

In den Klgl 3:4-18 folgen dann die Kennzeichen seines Leidens. Wir hören, wie Jeremia es empfindet. Das Erste ist das Verfallen seines Fleisches und seiner Haut und das Zerschlagen seiner Gebeine (Klgl 3:4). Fleisch, Haut und Gebeine machen den ganzen Körper aus. Der Zerfall der einzelnen Teile kann die Folge einer schweren Krankheit (vgl. Ps 38:4) oder eines Alterungsprozesses sein. Das Zerfallen (Zerschlagen) der Gebeine weist darauf hin, dass dem Körper alle Kraft und Lebensfähigkeit genommen wird (Jes 38:13).

Das zeigt den Ernst dieser Krankheit und der Entzug der Kraft, sie zu ertragen, zeigt die Tiefe seines Leidens. All seine Kraft verlässt ihn. Wir hören hier die Sprache von Psalm 22 und Psalm 69. Und wir hören auch jemanden wie Hiob in diesen Versen sprechen (Hiob 7:5; Hiob 19:20; Hiob 30:30).

In Klgl 3:5 werden wir mit den Leiden konfrontiert, die von außen kommen. Jeremia benutzt das Bild einer belagerten Stadt, gegen die der Feind einen Belagerungswall errichtet, um die Bewohner der Stadt zu bedrängen. Sein Leid fühlt sich an, als ob der HERR einen Wall aus Bitterkeit und Mühsal gegen ihn gebaut hat. Er ist davon umzingelt und eingeschlossen. Von allen Seiten grinst ihm die Zerstörung entgegen wie eine hohe, uneinnehmbare Mauer. Nebukadnezar ist derjenige, der Jerusalem belagert und umzingelt hat (Jer 52:4), doch Jeremia weiß, dass es eigentlich der HERR ist.

Er fühlt sich so hoffnungslos und verzweifelt, dass er sich bereits zu denen zählt, die gestorben sind (Klgl 3:6; Ps 143:3). Sein Vergleich mit „den Toten der Urzeit“ bedeutet auch, dass er nicht nur verlassen und allein ist, sondern auch vergessen und aus dem Gedächtnis verschwunden. Keiner denkt mehr an ihn. So hoffnungslos fühlt er sich. Innerlich verkümmert, um ihn herum eine Mauer, während er sich in der Dunkelheit des Todes befindet (Ps 88:10-12). Gibt es einen tragischeren Zustand, in dem sich ein Mensch befinden kann?

Die Klgl 3:7-9 sind ein Höhepunkt und eine Bewertung der vorangegangenen drei Verse. Sie spiegeln seine Gefühle des totalen Verlusts der Bewegungsfreiheit wider. Jeremia fühlt sich wie jemand, der völlig eingezäunt ist (Klgl 3:7). Er fühlt sich von einer Mauer des Elends umgeben, die der HERR um ihn errichtet hat, und fühlt sich in schweren Fesseln. Es ist, als sei er selbst mit den Fesseln gefesselt, mit denen Zedekia nach Babel gebracht wurde (Jer 39:7; Jer 52:11). Das ist hart für den Propheten, dem der HERR versprochen hat, ihn zu einer ehernen Mauer gegen das Volk zu machen (Jer 1:18).

Jeremia fühlt sich so eingeengt, dass er glaubt, dass selbst sein Gebet Gottes Ohren nicht erreicht (Klgl 3:8; Klgl 3:44). Es ist dramatisch zu erleben, dass Gott nicht hört, dass Er seine Ohren dem Gebet verschließt (vgl. Ps 22:2; 3; Ps 77:10). So scheint auch der Ausweg nach oben verschlossen zu sein.

Es ist nicht nur ein enger, ummauerter Raum, in dem sich Jeremia eingeschlossen fühlt, er sieht auch, dass alle seine Wege mit Quadern versperrt sind (Klgl 3:9; vgl. Hiob 19:8). Und scheint doch ein Weg frei zu sein, so erweist er sich, wie die Fußnote zu Klgl 3:9 sagt, als von Grund auf zerstört. Einen Weg, der versperrt ist, können wir nicht betreten (vgl. Hos 2:8) und auf einem zerstörten Weg werden wir unser Ziel nicht erreichen. Wir werden nicht dort ankommen, wo wir hinwollen. Jeremia hat das Gefühl, dass der HERR seinen Weg zerstört hat und er nicht bei Ihm ankommt. Das macht ihn verzweifelt. Auch Bileams Weg wurde vom HERRN versperrt (4Mo 22:26), doch das hatte den Grund, dass dieser böse Mann auf einem Weg war, ein böses Werk zu tun.

In Klgl 3:10 benutzt Jeremia ein anderes Bild (vgl. Hos 13:7; 8; Amos 5:19). Gott ist ihm wie „ein lauernder Bär“ und „ein Löwe im Versteck“. Ein Bär und ein Löwe sind reißende Tiere, die kein Erbarmen kennen. Sie sind darauf aus, unerwartet anzugreifen und ihre Beute zu verschlingen. Sie lauern und verstecken sich und warten geduldig, bis ihre ahnungslose Beute in ihrer Nähe ist. Dann schlagen sie erbarmungslos zu.

Es ist ihm, als hätte der HERR seine Wege so ausgerichtet, dass er unweigerlich in die Klauen des Bären und des Löwen fallen müsse (Klgl 3:11). Der HERR hat ihn in eine Falle laufen lassen und ihn so „zerfleischt“ und “verwüstet“. Es ist kein Leben mehr in ihm zu entdecken und wird wohl auch nicht mehr hervorkommen können.

Ein weiteres Bild taucht vor Jeremia auf. Es ist das eines Bogenschützen (Klgl 3:12). Er fühlt sich als Beute des Pfeils Gottes, des Bogens, den Er gegen ihn gespannt und auf ihn gerichtet hat. Er hat das Gefühl, dass Gott ihn jagt.

Die Pfeile aus dem Köcher des HERRN trafen ihn in seine Nieren (Klgl 3:13; vgl. 5Mo 32:23; Hiob 16:13). Die Nieren sind der Sitz der Weisheit (Ps 16:7). Er hat seine ganze Weisheit verloren und kann dies weder verstehen noch mit dem, was er von Gott weiß, in Einklang bringen.

Abgesehen davon, dass er sich als Zielscheibe für Gottes Pfeile fühlt, ist er auch zur Zielscheibe des Spottes seines Volkes geworden (Klgl 3:14). Es ist hier nicht wie in Klagelieder 1, wo das Volk über seine Feinde klagt. Nein, hier spricht Jeremia als der Unschuldige über das, was sein eigenes Volk ihm antut (Jer 20:7b).

Was Jeremia in Klgl 3:15 sagt, ist auch die Erfahrung Hiobs (Hiob 9:18; vgl. Rt 1:20). Der HERR hat gesagt, dass Er dies Juda und den falschen Propheten antun wird (Jer 9:14; Jer 23:15), aber nun ereilt dieses Schicksal den treuen Propheten. Statt guter Speise bekommt er nichts anderes zu essen als nur bittere Speise. Es ist nicht einmal möglich, sie abzulehnen, denn sie wird ihm verabreicht. Er muss sie essen. Er wird damit gesättigt und getränkt.

Das Essen dieser bitteren Kost ist wie das Beißen auf Kies (Klgl 3:16). Das Beißen auf Kies wiederum ist die Strafe für das Erzählen von Lügen (Spr 20:17). Wenn jemand diese Erfahrung macht, obwohl er immer die Wahrheit gesagt hat, fühlt er sich in Staub und Asche niedergedrückt (vgl. Jer 6:26). Dann ist der Friede dahin und auch die Erinnerung an das Gute (Klgl 3:17).

Klgl 3:18 ist eine Art Fazit der vorangegangenen Verse, in denen Jeremia seine Gefühle zum Ausdruck brachte (vgl. Klgl 3:54b). Ein solch seelischer Zustand äußerster Hoffnungslosigkeit raubt einem Menschen alle Kraft. Was bleibt noch, wenn nichts mehr übrig bleibt von dem, was man vom HERRN erwartet hat? Die Klage endet in Verzweiflung. Doch die Verzweiflung hat nicht das letzte Wort. Sie führt ins Gebet und das Gebet bringt Hoffnung. Das sehen wir in den folgenden Versen.

Nun kann man durchaus die Frage stellen: Was tun wir mit unseren Klagen, wenn wir mutlos werden und denken, wir könnten nichts vom Herrn erwarten? Wenn diese Erwartung weg ist, warum dann noch beten? So sind viele Menschen vom Glauben abgefallen, was jedoch zeigt, dass sie keine lebendige Beziehung zum Herrn hatten. Doch für den Gläubigen ist gerade dann, wenn er verzweifelt ist, der einzige Ausweg, wieder erneut zu beten.

Copyright information for GerKingComments