Proverbs 27:6

Tadel als Ausdruck der Liebe

„Offener Tadel“ ist ein offenherziges, direktes Wort ehrlicher Kritik oder Missbilligung durch einen Freund (Spr 27:5). Sie ist besser „als verhehlte Liebe“, also als eine Liebe, die zu schüchtern, zu ängstlich oder nicht vertrauensvoll genug ist, um zuzugeben, dass Tadel ein Teil wahrer Liebe ist. Eine Liebe, die keine Ermahnung kennt, ist moralisch wertlos. Es stellt sich sogar die Frage, ob solche Liebe aufrichtig ist. Wie auch immer, Liebe, die sich der Verantwortung entzieht, ist unvollständig.

Paulus musste Petrus einmal öffentlich tadeln (Gal 2:11). Aber das hat bei Petrus kein böses Blut bewirkt. Er spricht später in seinem zweiten Brief über „unseren geliebten Bruder Paulus“ (2Pet 3:15). Es ist falsche Liebe und in Wirklichkeit Hass, wenn wir eines unserer Kinder oder unsere Mitgeschwister nicht tadeln, wenn es nötig wäre: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Du sollst deinen Nächsten ernstlich zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld trägst“ (3Mo 19:17). Liebe „freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit“ (1Kor 13:6).

Der Spruch in Spr 27:6 sagt mit anderen Worten dasselbe wie Spr 27:5. Wir alle haben Menschen nötig, die uns so sehr lieben, dass sie bereit sind, uns die Wahrheit über uns selbst zu sagen. Solche Menschen sagen uns nicht nur Dinge, die wir hören wollen, sondern auch solche, die wir hören müssen. Das kann bisweilen schmerzhaft sein und Wunden verursachen. Aber dies sind stets Wunden, die keine Narben hinterlassen. „Wunden“ bezieht sich besonders auf Wunden an der Seele.

Vielleicht müssen wir jemanden auf etwas hinweisen, weil wir sehen, dass etwas droht, schiefzulaufen. Die angesprochene Person muss eine Korrektur in ihrem Verhalten vornehmen. Solche Zurechtweisungen mögen schwer zu schlucken sein und können sogar zur Folge haben, dass die beiden Gesprächspartner sich für eine Weile voneinander distanzieren. Die angesprochene Person mag die Aussage der anderen Person als unerwünscht empfinden. Wenn aber die ersten Emotionen einmal überwunden sind und man über das Gesagte nachdenkt, wird man die Zurechtweisung nach reiflicher Überlegung als Vorteil erkennen und es sogar als Gefallen ansehen (Ps 141:5; vgl. Off 3:19).

So können zum Beispiel Großeltern bei ihren Enkeln Dinge sehen, die ihren Kindern, den Eltern der Enkelkinder, entgehen. Da ist Weisheit erforderlich, wenn es darum geht, die Kinder in der richtigen Weise und zur richtigen Zeit darauf anzusprechen. Wahre Liebe weist auf etwas Falsches hin und wartet nicht, bis es zu spät ist.

Gegenüber den Äußerungen wahrer Liebe stehen die Äußerungen der Scheinliebe des Hassers. Der Hasser ist nicht geizig mit seinen „Küssen“. Er gibt sie „überreichlich“, um auf diese Weise seine wahren Absichten zu verbergen. Es sind irreführende und heuchlerische Äußerungen. Das abscheulichste Beispiel dazu ist der trügerische Kuss, mit dem Judas seinen Meister verriet (Mk 14:43-45).

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