‏ Psalms 9

Kapitel 9

Die Psalmen 9 und 10 gehören eigentlich zusammen; gemeinsam bilden sie das erste Akrostichon im Psalmenbuch: Jede zweite Doppelzeile soll mit dem nächsten Buchstaben des hebräischen Alphabets beginnen. Das besondere an Ps 9-10 ist aber, dass diese Form nur sehr „unsauber“ durchgehalten wird; v.a. im zweiten Teil - Psalm 10 - wird zwischendurch die alphabetische Ordnung fast völlig ausgesetzt. Diese formale Besonderheit stimmt zusammen mit der Aussage des Psalms (wir folgen hier der Deutung von Benun 2006): Ps 9-10 gehören zu den sog. „Feindklagen“: Ein Beter wird von Feinden bedrängt und beklagt sich darüber bei Gott, damit dieser ihm hilft. V. 1 nennt man die „Psalmenüberschrift“. Diese Psalmenüberschriften wurden nachträglich zu den Psalmen hinzugefügt; über ihren Sinn weiß man immer noch nichts Genaueres und auch die Bedeutung der einzelnen Vokabeln ist hier wie meist unklar. Doch da es sich um nachträgliche Hinzufügungen handelt, wirkt sich das glücklicherweise nicht allzu nachteilig auf das Verständnis des Psalms im Ganzen aus. Mit Vv. 2-13 beginnt der eigentliche Psalm, und zwar mit dem „Lobgelübde“: Der Beter hat eine Bitte, und für den Fall, dass Gott ihn erhört, gelobt er, ihn dann vor versammelter Kultgemeinde zu preisen. Das ist ungewöhnlich: Solche Lobgelübde finden sich häufiger in den Klagepsalmen (s, z.B. Ps 13,6; 22,24f.; 59,17f.), doch nie am Anfang eines Psalms und nie mit einer derart breit ausgeführten Kostprobe des später zu leistenden Lobes wie in Vv. 4-13. In Vv. 14 folgt dann erst die „Bitte“, die in Vv. 18-21 noch einmal breiter ausgeführt wird: JHWH soll sich seiner erbarmen, da es ihm aufgrund seiner Hasser elend geht. In Vv. 15-17 folgt darauf ein weiteres Lobgelübde, hier eindeutig als Zweck formuliert: Die beiden Kostproben des künftigen Lobes sollen Gott motivieren, der Bitte des Psalmisten in V. 14 nachzukommen. Mit diesem Inhalt stimmt die Form des Akrostichons überein: Bis V. 17 sind trotz aktueller Bedrängnis (s. V. 14) Akrostichon und Welt noch in Ordnung, der Beter blickt im Zwiegespräch mit Gott auf seine Rettung voraus und breitet sozusagen in „akrostisch gefälliger Form“ sein Lobesversprechen vor ihm aus. Doch in V. 19 beginnt mit dem Vorwurf an JHWH („Ach!, nicht auf immer werde vergessen der Arme!“) die schöne Ordnung sich auf einmal aufzulösen: Der Vorwurf bricht eine Doppelzeile zu früh aus dem Beter heraus, und zwei Doppelzeilen später findet sich der nächste erwartete Buchstabe nicht. Mit dem Einsatz von Vorwurf und Klage beginnt auch das Akrostichon zu zerfasern, was sich in Psalm 10 fortsetzen wird. 1
[Status: Zuverlässig]
''Für den Chorleiter (Dirigenten, Singenden, Musizierenden)''.
Chorleiter - Heb. menatseach; genaue Bedeutung unklar. Die Primärübersetzung „Chorleiter“ ist mehr oder weniger Konvention. S. noch nächste FN.
`almut labben ''([Vorzutragen vom] Vorsteher [über das Ritual] „`almut labben“)''
`almut labben ([Vorzutragen vom] Vorsteher [über das Ritual] „`almut labben“) - rätselhafter Begriff. Auch in den alten Übersetzungen und Deutungen wird unterschiedlich damit umgegangen: Viele Handschriften korrigieren zu `al-mut labben, was auch Tg und Hieronymus vorlag; dies wird dann meist als die Angabe eines bekannten Liedes gesehen, nach dessen Melodie der Psalm zu singen sei: „[zu singen] nach [der Melodie des Liedes] ‚Sterben für den Sohn/Sterben des Sohnes‘“ (so auch viele Üss.). LXX und VUL dagegen interpretieren als tha`alumot labben („[über die] Geheimnisse des Sohnes“). Einige neuere Üss. schließlich korrigieren den Text (=> Textkritik) von `almut nach `alamot (so wohl auch Aq), was sich auch im Titel von Ps 46,1 und auch in 1 Chr 15,20f. findet und ws. soviel wie „Jungfrauenweise“=„hohe Gesangsstimme“ bedeutet („Jungfrauenweise für den Sohn“ => GN: „für hohe Knabenstimmen“). Dass in den sog. „Psalmenüberschriften“ Angaben zur Melodie der Psalmen stehen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Einen wahrscheinlicheren Vorschlag zu ihrem Verständnis hat 1970 John Sawyer gemacht (s. Sawyer 2011b): In akkadischen Ritualtexten gibt es ähnliche Angaben wie in den Psalmüberschriften; u.a. wird dort häufig spezifiziert, wer den folgenden Text vorzutragen hat und welches Ritual Anlass des jeweiligen Ritualtextes ist. Entsprechend wäre dann in den Psalmen der menatseach nicht der „Chorleiter“ und `almut labben nicht die Melodie, sondern der menatseach wäre Vorsteher über das Ritual mit dem Namen `almut labben, bei dem der Psalm vorzuträgen wäre. Doch ist auch dies nur ein „educated guess“ und „Chorleiter“ und „[nach der Melodie]“ sind in dt. Üss. so etabliert, dass die LF doch besser dieser Deutung folgen sollte: „Für den Chorleiter. [Vorzutragen] nach [der Melodie des Liedes] ‚almut labben‘“.
''Ein Psalm (begleitetes Lied) von (für, über, nach Art von) David.''
2['''A''']
Ps 9-10 sind das erste sog. „Akrostichon“ in der Bibel, die Anfangsbuchstaben einiger Zeilen folgen also dem heb. Alphabet (s. die Anmerkungen). Um das direkt sichtbar zu machen, haben wir die obigen Buchstaben gesetzt: Wo „A“ steht, findet sich im heb. Text der erste Buchstabe des heb. Alphabets, wo „B“ steht der zweite usw.
Ich will (werde) JHWH preisen (danken, bekennen)
ich will JHWH preisen - Viele Üss. nach LXX, Aq und Sym: „Ich will [dich] preisen, JHWH“. Das ist richtig: Der Dichter verwendet hier ein Stilmittel, einen sog. „P-Shift“: In heb. Lyrik kann aus poetischen Gründen von einer Zeile auf die nächste von einer Person zur nächsten gewechselt werden (also z.B. hier: Zeile 1: Rede von Gott (3. Pers.) => Zeile 2: Rede zu Gott (2. Pers.)), ohne, dass dies einen Bedeutungsunterschied machen würde. Weil dieses Stilmittel im Dt. ungebräuchlich ist, sollte besser auch in der LF so übersetzt werden.
mit meinem ganzen HerzenIch will erzählen all' deine Wundertaten.

3Ich will mich freuen und jubeln über dich,Ich will deinen Namen (dich)
deinen Namen (dich) - der „Name“ Gottes steht hier wie meist in den Pss. für Gott selbst, genauer: für „Gott im Menschenmund“. Näher am Sinn wäre daher die Üs. „will dich besingen“ (so z.B. auch EÜ, GN, NeÜ).
besingen (bespielen), Höchster[, mit den Worten]:
[mit den Worten]: - Ps 9-10 haben eine interessante Struktur: Im ersten Teil überwiegt der Lobpreis und erst im zweiten Teil die Klage und Bitte. In der Regel ist es bei vergleichbaren Psalmen andersherum. Eshel/Strugnell 2000 z.B. haben aus diesem Grund sogar gemutmaßt, dass ursprünglich Ps 9 auf Ps 10 gefolgt sei. Eine weitere strukturelle Besonderheit: Die beiden längeren Lobpreisteile in Ps 9 folgen jeweils direkt auf eine Willensbekundung (formuliert im Kohortativ!), JHWH zu preisen: Vv. 2f.: Der Beter will JHWH preisen => Vv. 3-13: Lobpreis => Vv. 14f.: Bitte, damit der Beter JHWH peisen kann => Vv. 16-19: Lobpreis. Vorgeschlagen sei daher, dass es sich bei Vv. 3-13.16-19 um Proben des Lobpreises handelt, den der Beter im Falle seiner Errettung Gott darbringen will - wie sich das noch häufiger in den Klagepsalmen findet, s. z.B. schön deutlich Ps 22,24f.. Zu Vv. 16f. so auch Ehrlich 1905, S. 18. Das würde dann z.B. auch erklären, warum sich der Beter in V. 12 auf einmal an mehrere Hörer wenden und sie auffordern kann, in sein Lobpreis einzustimmen.
,
In Vv. 2-3 beginnt nicht nur das erste Wort mit Alef, dem ersten Buchstaben des heb. Alphabets - wie es das in den Anmerkungen beschriebene Muster erwarten lassen würde -, sondern jede Zeile und alle fünf verwendeten Verben beginnen mit diesem Buchstaben.


4['''B'''] „Als meine Feinde zurückwichen,Mussten sie stolpern
stolpern - häufige Metapher u.a. für das Besiegt-werden; s. z.B. Lev 26,37; 2 Chr 25,8; Ps 27,2 (vgl. V. 3); 64,8; Jes 3,8; 8,15 u.ö.
und vor dir
vor dir - W. »von vor deinem Angesicht«. »Vor jmds Angesicht« darf nicht wörtlich verstanden werden, sondern wird in der Bibel in den meisten Fällen als bloße Präposition verwendet (»vor«; vgl. z.B. THAT II, Sp. 443). In vielen Fällen wird aber gerade dann speziell diese Präposition verwendet, wenn von der Niederlage von Feinden vor/durch ihre Gegner die Rede ist (vgl. ebd., Sp. 444); gemeint ist also hier, was der Kontext ohnehin klar macht: Die Feinde des Beters werden bei ihrer Rückkehr stolpern - d.h. »besiegt werden«, s. vorige FN -, und der, der sie besiegt, ist Gott. Das »Preislied« auf Gott setzt also ein mit der Beschreibung desselben als einem für den Beter kämpfenden Streiter.
zugrunde gehen,
tFN: Als ... mussten - W. auf den ersten Blick: »Wenn meine Feinde zurückweichen, werden/sollen sie stolpern und vor dir zugrunde gehen« (so z.B. Terrien 2003; Zuber 1986). Die folgenden Zeilen zeigen aber klar, dass die hier beschriebene Niederlage der Feinde in der Vergangenheit liegt. Vermutlich handelt es sich daher hier um sog. »prospektive Yiqtols« (dazu vgl. z.B. Joosten 2012, S. 281-283): »Als meine Feinde zurückwichen« setzt die Referenzzeit, und von dieser Referenzzeit aus gesehen liegt das »Stolpern und zugrunde gehen« in der Zukunft; daher wird für »stolpern« und »zugrunde gehen« die (futurische) Verbform Yiqtol verwendet. Wir haben versucht, dies durch eine Übersetzung mit »mussten« nachzubilden; die natürlichere dt. Übersetzung wäre aber die mit durchgehend Vergangenheit: »Als meine Feinde zurückwichen, da strauchelten sie und kamen um vor deinem Angesicht« (SLT).


5Denn du hast mir Recht und mir Gerechtigkeit geschafft,saßest (hast dich gesetzt) auf dem Thron als gerechter Richter
auf dem Thron als gerechter Richter - im Alten Israel galt der König als der »oberste Richter und Garant des Rechts« (König / Königtum (AT) (WiBiLex)); der Übergang von der Streitermetapher zur Metapher vom thronenden Richter ist im Heb. also nicht so hart wie im Dt. S. ähnlich den Übergang von Ps 89,9-11.14 zu 89,15 und von Ps 97,1-2 zu 97,3-5.
(, [hast] gerecht gerichtet).

6['''C'''] Du hast Nationen
Nationen - Heb. gojim, oft verwendet für Nationen qua heidnische Nationen; sinngemäßer daher »Heidenvölker« (ähnlich z.B. Bonkamp 1949; Ehrlich 1905; Weber 2001: »Heiden«).
niedergemacht (gescholten):
niedergemacht (gescholten) - meist übersetzt als »gescholten«. Das ist auch die w. Bed. des Wortes, von dieser Übersetzung ist dennoch entschieden abzuraten: Das »Schelten« mit Gott als Subjekt hat sehr häufig Zerstörung zur Folge: In Ps 80,17 folgt daaraus der Tod - wie es ja auch hier in Parallele zu »ließest zugrunde gehen« steht -; in Jes 17,13 und 30,17 werden Völker durch Gottes Schelte in die Flucht geschlagen, in Ps 76,7; Jes 51,20 werden Mensch und Tier durch die Schelte Gottes ohmächtig, in 2 Sam 22,16; Ps 104,7; 106,9; Jes 50,2 und Nah 1,4 trocknet das Meer aus, weil Gott es schilt. Dieses Schelten mit »zerstörender Wirkung« (THAT I, Sp. 429) kommt vielleicht am besten in der Übersetzung »niedermachen« zum Ausdruck.
Einen Schlechten (Schlechte)
einen Schlechten (Schlechte) - N-Shift: Aus poetischen Gründen wechselt das Heb. vom einen Satz zum nächsten vom Pl. (»Nationen«) zum Sg. (»einen Schlechten«). Tg fühlt sich wegen diesem Shift sogar zur Explikation veranlasst: »Du hast das Volk [der Philister] gescholten und [Goliath], den Schlechten, zerstört.« Gemeint sind wahrscheinlich in beiden Sätzen mehrere Feinde, daher z.B. Alexander 1850, S. 42: »many a wicked enemy«; auch viele Üss. und schon Saadja übersetzen daher mit Pl. Für einige Bspp. für Shifts innerhalb derselben Zeile vgl. z.B. Gevirtz 1961, S. 157.
ließest du zugrunde gehen,Ihren Namen hast du ausgelöscht
Ihren Namen hast du ausgelöscht meint wohl: Du hast ihre ganze Linie ausgerottet (zu schem i.S.v. »Linie« vgl. z.B. Brichto 1973, S. 22). Die Aussage wird also immer stärker: »einen Schlechten« (6a) => »seine ganze Linie« (6b) => »ganze Städte« (7). Der N-Shift in 6a dient wohl dazu, diese Steigerung noch deutlicher zu machen.
auf immer und [für alle] Zeit.

7Der Feind - vernichtet sind [seine] Ruinen
Der Feind - [seine] Ruinen = »Die Ruinen des Feindes«. tFN: Die Syntax des Satzes ist nicht ganz einfach; vermutlich ist aber zu analysieren als Casus pendens ohne resumptives Pronomen: Im Heb. kann ein Satzglied von seiner »Stelle« im Satz an den Satzanfang gestellt werden, um es bes. hervorzuheben; meistens wird es dann an seiner »eigentlichen« Stelle durch ein Pronomen wie »seine« vertreten. Dieses kann aber auch entfallen (vgl. IBHS 4.7b; z.St. Gordis 1957, S. 110f.), und dies ist hier der Fall. Für eine weitere erwägenswerte Deutung vgl. Tsumura 1988, S. 235: »Der Feind ist vernichtet - [wie] Ruinen auf ewig / [wie (?)] Städte, die du zerstört hast - was an ihn erinnert...« Etwas schwierig ist dann nur die Zuordnung von »auf ewig«.
auf ewig;Und Gegner (Städte)
Gegner statt der häufigen Üs. »Städte« nach Gordis 1957, S. 11; Herkenne 1936, S. 68; s. 1 Sam 28,16; Sir 37,5; vgl. Ges18, S. 1007.
hast du entwurzelt (zerstört?), was an sie erinnert, ist zugrunde gegangen. {Sie}
Sie (heb. hemmah) z.B. mit BHS, Goldingay 2006 und Kissane 1953 vom Ende von V. 7 an den Anfang von V. 8 verschoben, da es am Ende von V. 7 wenig Sinn macht und auf diese Weise mit V. 8 im Akrostichon (s. FN c) wenigstens eine He-Zeile existiert, nachdem schon die Dalet-Zeile ausgefallen ist. In der Üs. folgen wir Goldingay 2006. LXX und VUL verstehen die Konsonanten des urspr. Textes als hommeh (»lärmend«): »Was an sie erinnert, ist lärmend zugrunde gegangen«; auch im den alten Üss. vorliegenden heb. Text stand das Wort am Ende der beiden Gimel-Doppelzeilen.


8['''E''' (?)] [Sie!] Doch JHWH wird für immer thronen.Er hat aufgerichtet seinen Thron zum Gericht,

9Um die Welt gerecht zu richten (und er wird die Welt gerecht richten),Gericht zu halten (Gericht halten wird er) über die Völker recht,

10['''F'''] Damit JHWH sei (und JHWH soll sein) eine Zuflucht für die Bedrückten,Eine Zuflucht für Zeiten der Bedrängnis,

11Auf dass zu dir flüchten können (und zu dir werden/können/dürfen flüchten) [jene], die deinen Namen kennen,
[jene], die deinen Namen kennen - geläufiger Ausdruck für JHWH-Verehrer: jene, die dich verehren (vgl. z.B. Ehrlich 1905, S. 18; THAT I, Sp. 694f.).
Weil du nicht im Stich lässt, die dich suchen,
Auch die dich suchen ist ein Ausdruck für JHWH-Verehrer: die, die sich zu dir halten (vgl. THAT I, Sp. 464-466).
JHWH.
Diese Verse sind ein schönes Beispiel dafür, wie zentral das Stilprinzip der Varianz in der heb. Lyrik ist. Z.B. werden in Vv. 6-8 drei verschiedene Ausdrücke für »ewig« verwendet (um »die Ewigkeit [Gottes] als Antithese zur Sterblichkeit der Menschen nennen« zu können (Eerdmans 1947, S. 122)); z.B. werden in Vv. 9-11 drei verschiedene grammatische Konstruktionen zum Ausdruck von finalen Nebensätzen verwendet (9a: Waw-X-Yiqtol - was in 9b dann noch mal variiert wird durch Yiqtol-X -, 10a Waw-Jussiv, 11a Waw-Yiqtol). In 9a und 9b werden zwei unterschiedliche, aber synonyme Wörter für »richten« und zwei unterschiedliche, aber synonyme Ausdrücke für »gerecht« verwendet. In V. 10 wird »Zuflucht« zweimal unterschiedlich spezifiziert: 10a: »Zuflucht für die Bedrückten«, 10b: »Zuflucht für Zeiten der Bedrängnis«. Von V. 10 auf 11 findet sich wieder ein P-Shift (dazu s. FN d). Und in V. 11 finden sich zwei unterschiedliche stehende Ausdrücke für JHWH-Verehrer.Eine weitere stilistische Besonderheit: JHWH steht drei Mal in Vv. 8-11: Als erstes Wort, als letztes Wort und genau in der Mitte (vgl. Benun 2006, S. 6).


12['''G'''] Singt JHWH, der auf dem Zion thront,
der auf dem Zion thront - Der Zion war der Tempelberg in Jerusalem; man stellte sich vor, dass Gott - zumindest »teilweise« - dort im Tempel wohnte. S. näher z.B. Zion / Zionstheologie (WiBiLex).
Verkündet den Völkern seine Taten!

13Denn [wie ein (als)] Sucher von Blut
Sucher von Blut = Bluträcher (vgl. Ges18, S. 261). Die »Blutrache« war im Alten Israel eigentlich die Aufgabe des nächsten Verwandten eines Ermordeten, der für diesen Mord dessen Mörder umzubringen hatte (s. z.B. Num 35,18f.; vgl. auch Dtn 19,5f.11f. u.ö. Gott wird als Bluträcher vorgestellt auch in Gen 9,5. Vgl. noch Blutrache (WiBiLex) und zur Stelle gut Herkenne 1936, S. 68).
(Denn er sucht Blut,) denkt er an sie,
denkt er an sie - Ist Gott Subjekt des »an-jmdn-Denkens«, meint der Ausdruck meist die helfende Zuwendung Gottes zu dem, an den er »denkt« (vgl. THAT I, Sp. 513f.). Das »sie« bezieht sich also wohl nicht zurück auf die »Völker« in V. 12, sondern auf die, die »JHWH suchen« in V. 11, für die das selbe Verb verwendet wird wie für den »Blutsucher« Gott, und die Bed. ist dann: Gott wird für seine Verehrer das sein, was ein Bluträcher für seinen nächsten Verwandten ist: Er wird an ihnen begangenes Unrecht rächen. Als Vergleichspunkt ist wahrscheinlich gedacht, dass Gott, der »wie ein Bluträcher ist«, (1) schlechte Taten rächt und sie rächt, (2) indem er die Gegner seiner Verehrer tötet.Nicht viel Sinn macht dagegen dann die häufige Übersetzung »als ein Bluträcher denkt er an sie« - denn wenn ein Bluträcher in Aktion treten muss, ist es für den Bedürftigen schon zu spät. Doch gerade dagegen richtet sich die nächste Zeile.
Er vergisst nicht
vergisst nicht - ganz ähnlicher Ausdruck wie »denken an« in der vorigen Zeile: Die Rede vom »Vergessen« Gottes meint meist sein aktives sich-Abwenden von jmdn (s. z.B. 1 Sam 1,11; Ps 13,2; 42,10; 44,25; Jes 49,14; Klg 5,20). Dass Gott die Armen »nicht vergisst« meint also das gleiche wie dass Gott »an sie denkt«, nämlich, dass er ihnen helfend beisteht.
das Rufen der Elenden (Armen).“
der Elenden (Armen) - häufiger Ausdruck für JHWH-Verehrer qua hilfsbedürftige, weil bedrängte, JHWH-Verehrer (vgl. z.B. THAT II, Sp. 345f.). Weil es hier im direkten Zhg. steht mit „denen, die Gott suchen“ und „denen, die seinen Namen kennen“, dürfte eine bloße Übersetzung mit „Arme“ oder „Elende“ zu wenig sein.


14['''H'''] Sei mir gnädig, JHWH! Sieh auf mein Elend
Sieh auf mein Elend - d.h. ignoriere mich in meinem Elend nicht, sd. hilf mir! Gut HfA: „Siehe doch, wie ich leide unter dem Hass meiner Feinde!“
von meinen Hassern,Indem du mich emporhebst ([du], der du mich emporhebst/mich emporgehoben hast/[allein] mich emporheben kann) von den Toren des Todes,
indem du mich emporhebst von den Pforten des Todes - „indem“ gut nach ELB. Im altisraelitischen Weltbild lag die Unterwelt am Fuß des Meeres oder noch darunter; man stieg durch Tore mit großen Riegeln in sie hinab. Soviel zu den „Pforten des Todes“; zum Verständnis des Satzes ist außerdem Folgendes wichtig: In den biblischen Texten sind Leben und Tod nicht immer absolute Gegensätze, sondern die beiden Pole eines Kontinuums: Geht es einem gut, hält man sich auf im Bereich des Lebens; geht es einem dagegen „elend“, gerät man schon damit in die Nähe der „Pforten der Unterwelt“ und Gott muss aktiv werden, indem er den Elenden von dort „emporhebt“ (zum Vorstellungskomplex vgl. sehr gut Campbell 1971, S. 109). Darum bittet der Beter hier; „indem du mich emporhebst von den Pforten des Todes“ meint ungefähr: „indem du etwas gegen dieses mein Elend unternimmst“. Sehr gut daher HfA: „Ich stehe am Rand des Todes! Bring mich in Sicherheit!“ Die häufige Üs. mit Imperativ ist eine freie, aber sinnvolle Übersetzungsentscheidung. Die Üs. von PAT mit Vergangenheit ist darauf zurückzuführen, dass sie den Text nach Aq und Hieronymus vom Partizip zu Vergangenheit korrigieren (so auch BHS; Herkenne 1936; Zorell 1928), was aber klar als kontextuelle Anpassung dieser beiden Übersetzer anzusehen ist.


15Damit ich Lobpreisungen auf dich äußern kann in den Toren der Tochter Zion
Tore der Tocher Zion - Der „Zion“ ist der Tempelberg in Jerusalem; „Zion“ steht daher oft pars pro toto für Jerusalem selbst. Auch „Tochter Zion“ ist ein häufiger Begriff für Jerusalem; über den Begriff wird zusätzlich die Beziehung Jerusalems zu „ihrem“ „Vater“ JHWH betont (s. näher Tochter Zion (WiBiLex)) - ganz ähnlich, wie auch die Rede vom „Bluträcher JHWH“ in V. 13 eine enge familiäre Beziehung zwischen JHWH und seinen notleidenden Verehrern implizierte (dazu s. dort). „‚An den Toren der Tochter Sion‘ ist Antithese zu den ‚Pforten des Todes‘ (14b) und bezeichnet den Versammlungsplatz an den Toren der altpalästinensischen Städte, hier Jerusalems, also = in aller Öffentlichkeit, wie bei uns ‚auf dem Markt‘.“ (Herkenne 1936, S. 69).
und jubeln kann über [meine] Rettung durch dich [mit den Worten]:

16['''I'''] „Versunken sind die Nationen im Schacht, [den] sie gemacht haben;Im Netz, das sie versteckt haben, hat sich ihr [eigener] Fuß verfangen!

17JHWH hat sich kundgetan, Gericht hat er geübt:Im Werk seiner [eigenen] Hände hat er den Schlechten (hat sich der Schlechte)
Textkritik: Der hebräische, ursprünglich vokallose Konsonantentext war sowohl lesbar als noqesch (»er - nämlich JHWH - hat verstrickt«) als auch als noqasch (»er - nämlich der Böse - hat sich [selbst] verstrickt«). MT vereindeutigt durch Vokalisierung und VUL und Saadja durch Übersetzung zur ersten Bedeutung, LXX, Syr, Aq durch Übersetzung zur zweiten Bedeutung. Fast alle Üss. und Kommentare wählen die zweite Interpretation, aber ob das so sinnvoll ist? Das Motiv des in-seine-eigene-Falle-gehenden Gegners findet sich oft in der Bibel. Auch in Ps 9, nämlich gleich zwei Mal in V. 16. Von 17b sollte man daher doch vielleicht eher nicht noch ein drittes Mal dieses Motiv erwarten, sondern eine Erklärung, inwiefern es auf JHWHs Gerichts-üben zurückzuführen sein soll (17a), dass die Gegner in ihre eigenen Falle gegangen sind - und nach der ersten Bedeutung würde das V. 17b leisten: Die Gegner sind in ihre eigene Falle getappt - so hat JHWH Gericht geübt - denn: Er war es, der sie in ihre eigene Falle tappen ließ. Aus diesem Grund folgen wir hier dem MT.
verstrickt!“ {Higgaion Selah}
{Higgaion Selah} (V. 17) + {Selah} (V. 21) - Zwei Wörter mit unklarer Bedeutung. Higgaion ist offenbar etwas Hörbares, s. Ps 19,15 und Klg 3,62, wo es in Parallele zu „Reden“ steht, und Ps 92,4, wo es offenbar das bezeichnet, was eine Harfe von sich gibt. Hier in Ps 9,17 ist die Funktion von higgaion wohl die selbe wie die von selah - und welche das ist, ist ganz unklar, s. Lexikon / Lemma סֶלַה. In der LF sollten beide Begriffe daher besser wie in vielen Üss. ausgespart werden.


18['''J'''] Es mögen Schlechte zur {gen}
tFN: {gen} - Die Richtung wird hier merkwürdigerweise sowohl durch le als auch durch direktionales He markiert. Wahrscheinlich ist das bedeutungslos, auffällig war es aber schon den alten Schriftgelehrten; im Midrasch etwa findet sich etwa folgende Deutung: „R. Nechemja hat gesagt: Jedes Wort, das am Anfang kein l hat, erhält am Ende ein h [...]. Da fragen sie ihn: ‚Hier heißt es doch aber: li-scheol-ah?‘ R. Abba ben Sabda hat gesagt: Damit soll ausgedrückt werden, dass die Frevler in die tiefste Tiefe der Hölle müssen.“ (Üs. nach Wünsche 1892, S. 92).
Scheol
Scheol - Heb. Name der Unterwelt. Mit der Hölle hat die Scheol-Vorstellung sehr wenig gemein. Vermutlich stellte man sie sich vor als eine unter der Erde gelegene Stadt, deren Bewohner in der Finsternis zur Passivität und Gottferne verdammt waren (s. näher Jenseitsvorstellungen (AT) (WiBiLex)).
zurückkehren,
zurückkehren - Weil zumindest manchmal nach der Vorstellung im Alten Israel der Mensch in der Scheol entstand. S. z.B. IJob 1,21; 30,23; Ps 139,15; Sir 40,1; zur Vorstellung vgl. z.B. Balog 2012, S. 160-171; Tromp 1969, S. 122-124; zur Stelle Kissane 1953, S. 42. Die meisten Üss. übersetzen freier als „zur Scheol hinabfahren“; das ist hier wohl das Sinnvollste.
Alle Nationen, die Gott vergessen [haben].
Gott vergessen [haben] = die keine JHWH-Verehrer sind (vgl THAT II, Sp. 902).


19['''K'''] Ach!, (Denn) nicht auf immer werde vergessen (wird vergessen werden) der Arme,verderbe (wird verderben) die Hoffnung der Elenden für [alle] Zeit!
Zu vergessen vgl. FN y, zu der Elenden FN z. Der Beter bittet hier exakt um das, wofür er in V. 13 JHWH versprochen hat, ihn nach dessen Hilfe öffentlich zu preisen.


20Erhebe dich, JHWH! Menschlein (Menschen)
Menschlein (Menschen) - Der Dichter wählt bewusst das Wort ´enosch, mit dem oft der Mensch qua schwaches Wesen bezeichnet wird (vgl. z.B. TWOT 136a). Stark daher B-R in V. 20: „Nimmer trotze das Menschlein!“ Ähnlich übrigens schon der Midrasch: „Überall wo ´adam in der Schrift steht, bedeutet es ‚wirklicher Mensch‘, wo [...] ´enosch ´adam steht, ist ein ‚Tor‘ gemeint.“ (Üs. nach Wünsche 1892, S. 92).
sollen nicht stark sein!
nicht stark sein - etwas rätselhafter Ausdruck. „Nicht das Menschlein“ impliziert wohl: „sondern du, Gott!“; gedacht ist also wohl an Menschen, die glauben, sich JHWH widersetzen zu können. Sinnvoll daher GN: „Lass nicht zu, dass ein Mensch dir die Stirn bietet!“, NGÜ: „Lass nicht zu, dass Menschen sich dir widersetzen!“ Schön auch wieder WEIN: „der Mensch der Überhebung“.
Die Nationen sollen gerichtet werden vor dir!

Setze, JHWH, Furcht in sie (ihnen einen Lehrer vor, gib ihnen eine Lehre)!
Textkritik: Furcht in sie (ihnen einen Lehrer vor, gib ihnen eine Lehre) - die Konsonanten des ursprünglich vokallosen heb. Textes scheinen „Lehrer“ zu bedeuten (mrh, vokalisiert: moreh); so übersetzen auch LXX, Syr und VUL. MT aber vokalisiert als morah, will das Wort also wohl als mora´ („Furcht“) verstanden wissen, was im Kontext mehr Sinn machen würde. Auch Aq, Theod, Tg, Hieronymus, Saadja und der Midrasch verstehen als/übersetzen mit „Furcht“ und einige Handschriften korrigieren auch die Konsonanten zu mr´. Bei dieser Vielzahl an Zeugen wird man wohl am sinnvollsten davon auszugehen haben, dass morah eine alternative Schreibweise für mora´ ist und die Konsonanten mr´ also sowohl als „Furcht“ als auch als „Lehrer“ verstanden werden konnten (so schon Olshausen 1853, S. 59), wie sich das öfters bei auf -ah oder -a´ endenden Wörtern findet. „Furcht“ ist dann sicher vorzuziehen. R-S und TAF („Gib ihnen eine Lehre“) folgen der Deutung von Ehrlich 1905: morah ist nicht eine falsche Vokalisierung von moreh („Lehrer“), sondern ein feminines Nomen von der selben Wurzel mit der Bedeutung „Lehre“.
Es sollen wissen Nationen, dass sie [nur] Menschlein (Menschen) sind! {Selah}

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